Solidarischer Antiimperialismus oder heuchlerischer Pazifismus

Author

Christian Zeller

Date
November 13, 2022

Seit das Putin-Regime seinen Besatzungskrieg gegen die ukrainische Bevölkerung am 24. Februar startete, diskutieren Sozialist:innen kontrovers über die Charakterisierung dieses Krieges. Besonders umstritten ist die Haltung gegenüber dem ukrainischen Widerstand. Sollen antiimperialistische und revolutionäre Ökosozialist:innen den Widerstand der ukrainischen Bevölkerung, organisiert in der bürgerlichen Armee der Ukraine, gegen die imperialistischen Besatzungstruppen unterstützen. Oder sollen sie es hinnehmen, dass Russland über weite Teile der Ukraine ein brutales Besatzungsregime mit allen zerstörerischen Konsequenzen errichtet? Dahinter verbirgt sich eine grundsätzliche Frage: wie soll man sich zum Widerstand gegen imperialistische Angriffe positionieren, wenn nicht westliche Imperialismen angreifen, sondern imperialistische Mächte wie Russland und China oder autoritäre Regimes.[1] Ähnliche Herausforderungen werden uns noch öfter belasten. Sollte die Volksrepublik China das Nachbarland Taiwan angreifen oder einen bewaffneten Aufstand einer unterdrückten Nationalität niederschlagen, gälte es ebenfalls Stellung zu ergreifen.

In ihren Stellungnahmen versteht die Vierte Internationale den russischen Besatzungskrieg als Ausdruck des großrussischen Chauvinismus und +Imperialismus, der die Existenz einer ukrainischen Nation bestreitet und die eine unabhängige Ukraine nicht akzeptiert. Das Putin-Regime hat den Krieg begonnen und wiederholt eskaliert. Der ukrainische Widerstand hat einen antikolonialen Charakter und muss deshalb unterstützt werden. Die Niederlage des Putin-Regimes ist Voraussetzung für eine demokratische Entwicklung sowohl in der Ukraine als auch in Russland. Ein Sieg Putins wäre gleichbedeutend mit der Zerstörung der Zivilgesellschaft in der Ukraine und in Russland. Er würde die internationale Kriegsgefahr ansteigen lassen. „Brüder im Geiste“ Putins würden ihre Expansionsvorhaben kriegerisch durchsetzen wollen. Erst der erfolgreiche Widerstand der Ukraine brachte die NATO-Staaten in Zugzwang dem Widerstand militärisch massiv unter die Arme zu greifen, die aber selbstverständlich ihre eigenen imperialistischen Interessen verfolgen.

Die ISO gibt vor, solidarisch mit dem ukrainischen Widerstand zu sein, spricht sich aber dagegen aus, dass sich dieser Widerstand mit wirksamen Waffen den russischen Besatzungstruppen entgegenstellen und die Bevölkerung vor Bombardierungen schützen kann. Die offensichtliche Inkonsistenz und innere Widersprüchlichkeit dieser Position kommt exemplarisch in der Resolution der ISO vom 17./18. September 2022 zum Ausdruck.[2] Diese Resolution kombiniert Versatzstücke geopolitischen Lagerdenkens, pro-russischer Propaganda, ein schematisches Verständnis von Imperialismus und einen heuchlerischen Pazifismus mit einer brüchigen Referenz an eine internationalistische Position wie sie von der Vierten Internationale vertreten wird.

Die Resolution zeigt sich im Titel und in den ersten Absätzen zwar solidarisch mit dem „Widerstand in der Ukraine und der russischen Antikriegsbewegung“, widerspricht allerdings in den weiteren Ausführungen dieser Bekundung. Die Resolution macht zunächst das Regime Putins für den Krieg verantwortlich und stellt sich im zweiten Punkt auf die Seite der ukrainischen Bevölkerung. Die nachfolgende Anprangerung der ukrainischen „Oligarchenregierung“ leitet dazu über die eingangs angekündigte Solidarität wieder aufzukündigen. In diesem Zusammenhang erinnere ich daran, dass jene sozialistischen Kräfte, die „Klassenunabhängigkeit“ der Gewerkschaften und Linken gegenüber der neoliberalen Regierung in der Ukraine am wirksamsten unterstützen, die aktive Solidaritätsarbeit leisten und sich den Waffenlieferungen an die Ukraine nicht entgegenstellen.

Die Resolution bewertet die Maidan-Revolte und übernimmt dabei Elemente russischer Propaganda. Sie bezeichnet den Regierungswechsel zwar nicht als einen Putsch, doch sei die neue Regierung durch direkte US-Einmischung gebildet worden (Punkt 4). Die Dynamik der breiten Erhebung der Bevölkerung würdigen die Verfasser:innen mit keinem Wort. Die Resolution verteidigt die fragwürdigen Minsk-Abkommen und wirft der ukrainischen Regierung implizit vor, einen Bürgerkrieg mit den „Volksrepubliken“ in Donezk und Luhansk provoziert zu haben (Punkt 2). Zugleich verschweigt der Text bezeichnenderweise die entscheidende Einmischung von außen: die Besatzung der Halbinsel Krim durch russische Truppen und die massive militärische Intervention Russlands zugunsten der Donbas-Rebellen, die dort ein reaktionäres Klientelregime errichtet haben. In ihrer Bewertung des Sprachenkonflikts in der Ukraine missachtet die Resolution die Probleme, die sich einer kolonisierten Bevölkerung stellen, wenn sie ihre Sprache gegenüber der Kolonialsprache gesellschaftlich zur Anerkennung bringen will.

Die Resolution charakterisiert den Krieg als auch Stellvertreterkrieg. Der Verweis auf Aussagen von US-Regierungsstellen, die einen „langen Krieg“ prophezeit hätten, dient dazu, den USA vorzuwerfen, einen Abnutzungskrieg gegen Russland zu führen, wofür die ukrainische Bevölkerung den Blutzoll bezahle. Die Resolution benennt aber nicht, wer den Krieg tatsächlich in die Länge zieht, immer neue Angriffe durchführt und einen geradezu mörderischen Abnutzungskrieg mit offenem Massenterror gegen die ukrainische Bevölkerung führt. Das ist doch offensichtlich das Putin-Regime. In den nachfolgenden Ausführungen offenbaren die Autor:innen, dass für sie der Krieg nicht auch, sondern vor allem ein Stellvertreterkrieg ist. Sie „fordern die sofortige Einstellung der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine, da sie das Potential haben, den Krieg zu eskalieren und eine unkontrollierbare Dynamik auszulösen.“ Die Ukraine darf sich also nicht verteidigen. Die Armee soll nicht einmal schwere Luftabwehrwaffen zum Schutz der Bevölkerung vor Bombenterror erhalten.

Sie steigern die Verweigerung der Solidarität zu einer infamen Beschuldigung: „Das Recht auf Selbstbestimmung eines Volkes gibt ihm nicht das Recht, andere Völker in den Krieg zu ziehen. Die ukrainische Führung versucht mit allen Mitteln, den Krieg zur Sache der NATO zu machen, weil ihre eigenen Mittel der Kriegführung begrenzt sind. Dem müssen wir entgegentreten, die auf Expansion drängende Eigenlogik des Krieges muss gebrochen werden. Die Arbeiterklasse fremder Länder in einen Krieg zu treiben, der sie nichts angeht, hat mit proletarischem Internationalismus nichts zu tun. Dieser zielte stets darauf ab, einen Krieg schnellstmöglich zu beenden – sofern er kein Bürgerkrieg war.“

Mit dieser Aussage beleidigen die Verfasser:innen nicht nur die ukrainische Linke, sondern die gesamte Bevölkerung der Ukraine, die nach Hilfe ruft. Nicht einmal die ukrainische Armeeführung hat erklärt, dass sie den Krieg ausweiten und andere Staaten, also deren Arbeiter:innenklasse, in den Krieg ziehen wolle. Als die Vietnames:innen und Algerier:innen in ihren Befreiungskämpfen nach Unterstützung suchten, hätten ihnen dann linke Oppositionelle in Russland und China die potentielle Ausweitung des Krieges zum Vorwurf machen sollen?

Dieser Vorwurf ist der teilweise hysterischen Stimmung in Teilen der deutschen radikalen Linken geschuldet. Die Autor:innen dieser Zeilen betreiben schlicht eine Schuldumkehr. Verantwortlich für die Eskalation des Krieges sei der militärische Widerstand der Ukraine und der bislang unbeugsame Wille der ukrainischen Bevölkerung diesen Widerstand weiterzuführen, nicht aber das Regime, dass den Krieg begonnen und seither in mehreren Schritten massiv eskaliert hat und mittlerweile unverhohlen mit nuklearem Massenterror droht.

Schließlich kritisieren die Autor:innen die Wirtschaftssanktionen. Diese Sanktionen wirken beschränkt und selektiv. Sie treffen die wesentlichen Oligarchen und Kapitalgruppen wenig, was ihre Urheber durchaus wünschen. Dennoch sind Sanktionen nicht rundweg abzulehnen. Das zeigen auch die Erfahrungen anderer Sanktionen und Boykottbewegungen. Auf derartige Differenzierungen verzichtet der Text. Zu erinnern ist, dass russische Sozialist:innen Sanktionen nicht rundweg ablehnen Zudem stellt sich im Umkehrschluss die Frage, wenn die ISO sich solidarisch mit dem ukrainischen Widerstand zeigen will, aber sowohl Waffenlieferungen für die Ukraine als auch Sanktionen gegen Russland ablehnt, durch welche Forderungen nach militärisch und ökonomisch wirksamen Maßnahmen will sie dann diese Solidarität in Deutschland zum Ausdruck? Die Resolution vermittelt hierzu keine Hinweise. Die bekundete Solidarität verkommt zur Worthülse. Darüber täuscht auch die Geldsammelkampagne für Sozialnyj Ruch nicht hinweg.

Die Resolution beklagt die Schwäche der alten Friedensbewegung. „Dennoch tut sich die alte Friedensbewegung bislang schwer, in größerem Umfang gegen die neue Spirale von Rüstung und Krieg zu mobilisieren. Das liegt zum Teil an ihrer inneren Zerstrittenheit, zum Teil aber auch an dem offenbar immer noch abrufbaren, historischen Reflex gegenüber dem ‚gewalttätigen, unberechenbaren und heimtückischen Iwan‘“.

Die Friedensbewegung ist schwach, weil sie schlicht unglaubwürdig geworden ist. In ihren Stellungnahmen vor und nach Beginn des Krieges schrieben ihre Exponent:innen die Hauptverantwortung für den Krieg der NATO, nicht dem Putin-Regime zu. Außer im rechtsextremen und im (post)stalinistischen Milieu haben diesen Unsinn nur wenige Menschen geglaubt. Doch die Resolution erwähnt diese fundamentale politische Verirrung der Friedensbewegung mit keinem Wort, denn dann müsste die ISO auch über ihre eigenen Stellungnahmen kritisch nachdenken. Stattdessen prangert sie die angebliche Kriegshetze der Medien an. Gäb es diese Kriegshetze in Deutschland wirklich, wäre die politische und gesellschaftliche Situation in Deutschland eine ganz andere. Weder die wesentlichen Kapitalfraktionen noch die Bevölkerung wollen einen Krieg. Die Gesellschaft ist weit von einer Kriegsstimmung entfernt. Relevante Teile des deutschen Kapitals wollen vielmehr bald irgendeine Vereinbarung mit den Kapitalist:innen in Russland finden, um die profitablen Geschäfte wiederaufzunehmen.

Die Resolution fordert sowohl den sofortigen Abzug aller russischen Truppen aus der Ukraine und einen sofortigen Waffenstillstand. In der konkreten Situation ist das ein offensichtlicher Widerspruch. Würde die ukrainische Regierung die Waffen ruhen lassen, käme das einer Niederlage und der Besatzung weiter Teile des Landes gleich – mit allen zerstörerischen Konsequenzen für die Menschen, deren Kultur und das gesamte zivile Leben.

In diesem Lichte erscheint die am Ende der Resolution erwähnte Dialogbereitschaft mit Sozialnyj Ruch und der ukrainischen Linken geheuchelt. Die Resolution propagiert Solidarität mit dem ukrainischen Widerstand und wirft diesem zugleich vor, eine Eskalation zu betreiben und die Arbeiter:innenklasse anderer Staaten in diesen Krieg hineinziehen zu wollen. Das Putin-Regime bombardiert flächendeckend die Menschen in der Ukraine und droht mit dem Einsatz von Atomwaffen und Linke in Deutschland – einschließlich die ISO – werfen dem ukrainischen Widerstand vor, den Krieg zu eskalieren. Ist das solidarischer Antiimperialismus oder heuchlerischer Pazifismus oder schlicht Verweigerung der Realität?

[1] Ich stütze meine Argumente hier auf eine ausführliche von mir mitverfassten Stellungnahme von 15 Sozialist:innen aus der Ukraine, Russland, Polen, Deutschland, Österreich und Schweiz. https://emanzipation.org/2022/08/ukrainischen-widerstand-unterstuetzen-und-fossiles-kapital-entmachten/. Weitere Argumente finden sich in meiner Antwort auf eine Entgegnung, die von ISO-Mitgliedern mitverfasst wurde. https://emanzipation.org/2022/09/debatte-besatzung-akzeptieren-um-krieg-zu-beenden.

[2] ISO: Bundeskonferenz 2022. Solidarität mit dem Widerstand in der Ukraine und der russischen Antikriegsbewegung! Stoppt den Krieg! 17./18. September https://intersoz.org/wp-content/uploads/2022/10/Bundeskonferenz_Solidarit%C3%A4t-mit-dem-Widerstand-in-der-Ukraine-und-der-russischen-Antikriegsbewegung.pdf