Christian Zeller
Die Junge Welt hat Ingar Solty sehr viel Platz zur Verfügung gestellt, damit dieser die „linken und linksradikalen Befürworter von Waffenlieferungen in die Ukraine“ der Widersprüchlichkeit, des Moralismus und Geschichtsrevisionismus bezichtigen kann. Sein Ziel ist klar: es geht darum, die linke Solidarität mit dem ukrainischen Widerstand als „Anhängsel der herrschenden Politik“ zu delegitimieren.
Ingar Solty zieht eine Strohpuppendiskussion auf. Er kritisiert Linke und Linksradikale, die aktiv Waffenlieferungen vom bürgerlichen Staat fordern, zitiert dann aber ausschließlich liberale bis konservative Journalistinnen, Journalisten, Politiker, Politikerinnen, Professoren und Professorinnen. Das ist entweder unverständlich oder bewusst irreführend. So eröffnet niemand eine ernsthafte Diskussion.
Es ist gleich eine doppelte Falschaussage, wenn Ingar Solty meint, dass jene Linken, die eine Kampagne für Waffenlieferungen an die Ukraine führten (wer tut das?), zugleich keine konkrete Solidarität mit den Gewerkschaften in der Ukraine übten. Die zentrale Differenz ist nicht die Frage, ob irgendwer Waffen an die bürgerliche Armee der Ukraine liefert oder nicht. Darüber will Ingar Solty in diesem Artikel auch nicht schreiben, obwohl er das mit seiner Delegitimierung der kritisierten „Linksradikalen“ indirekt und sehr wohl gezielt tut.
Die zentrale Frage ist die, ob man sich auf die Seite der kämpfenden Angegriffenen, Unterdrückten, Vertriebenen und Ausgebeuteten und deren Kampf für eine unabhängige und souveräne Ukraine stellt, und zwar unabhängig davon, was die eine oder andere imperialistische Macht gerade tut oder nicht tut. Wenn Ingar Solty das als moralischen Zugang abtut, steht ihm das frei. Doch ohne Empathie und Solidarität mit den Angegriffenen ist emanzipatorische Politik unmöglich, geopolitische Schachspielerei jedoch durchaus. Zugleich gibt es sehr wohl theoretisch begründete politische Grundsätze, die in der Geschichte der Arbeiter:innenbewegung verankert sind. Das Recht auf Selbstbestimmung schließt selbstverständlich ein, dass sich die Angegriffenen mit geeigneten Waffen zur Wehr setzen können und dass sie diese Waffen von jenen erhalten dürfen, die bereit sind, ihnen diese – aus welchen Motiven auch immer – zu geben.
Daraus folgt: es gilt eine dreifache Solidarität mit den kämpfenden Lohnabhängigen – den Arbeitenden – in der Ukraine zu entwickeln. Das ist eine Solidarität:
- Mit ihrem Widerstand gegen den russischen Imperialismus, der das großrussische Reich wiederherstellen will, darum die Ukraine als unabhängigen Staat nicht akzeptiert und dessen Territorium besetzen will.
- Mit ihrem Widerstand gegen die unsoziale und repressive Politik der Selenskyj-Regierung, beispielsweise gegen die neoliberalen Arbeitsmarktreformen.
- Mit ihrem Widerstand gegen die Plünderung der gesellschaftlichen Ressourcen (u.a. billige Arbeit, Landwirtschaftsland, Natur) durch Konzerne aus Westeuropa und den USA sowie ihren Anstrengungen für einen Schuldenerlass für die Ukraine.
Das europäische Solidaritätsnetzwerk mit der Ukraine verbindet in seiner Alltagsarbeit genau diese drei Achsen. Es stellt sich konsequenterweise den Lieferungen von Waffen an die ukrainischen Armee nicht entgegen, weil es den Widerstand für legitim hält. Damit steht es im Einklang mit Gewerkschaften, feministischen und LBTGQ-Initiativen, Umweltgruppen und antiautoritären und demokratisch sozialistischen Organisationen in der Ukraine, die konkrete Basisarbeit machen, Hilfskonvois organisieren und Geld für Waffen sammeln. Viele ihrer Mitglieder stehen an der Front. Sie sind die Partnerinnen und Partner für grenzüberschreitende emanzipatorische und solidarische Politik gegen die Geopolitik der Mächtigen. Die sozialistischen, anarchistischen und feministischen Aktivistinnen und Aktivisten des European Network for Solidarity with Ukraine zeigen, dass die Diskussion international weit differenzierter und fruchtbarer sind als die wiederholten Diffamierungskampagnen geopolitischer Linksstrategen und der Jungen Welt.
Geopolitisches Blockdenken
Ingar Solty hat bewusst die Junge Welt für seine Polemik ausgewählt. Das ist eine Zeitung der Freundinnen und Freunde des geopolitischen Blockdenkens und des Kriegsherrn im Kreml, dessen Reden sie mit wohlwollendem Verständnis abdruckt. Das ist die Zeitung, die sich nicht davor scheut, russische Kriegsverbrechen zu leugnen und zu verharmlosen. Genau da passt der Beitrag auch hin. Ingar Solty schreibt, dass die Ukraine ein vom Westen abhängiger Staat sei, der „kaum weniger autoritär und oligarchenkapitalistisch als der Nachbar Russland“ sei. Damit lässt er erkennen, dass ihm die Unterscheidung zwischen autoritärer Diktatur einer imperialistischen Macht, die weiterhin Gebiete in ihrem Inneren und an ihren Rändern als Kolonialgebiete behandelt, und einer korrupten parlamentarischen Demokratie, eines nicht imperialistischen Staates, völlig belanglos erscheint.
Ingar Solty deutet damit an, dass er eine Niederlage der Ukraine und damit auch eine Zerstörung der ukrainischen Zivilgesellschaft hinnimmt. Denn das ist die Konsequenz, wenn der Ukraine die Mittel zur Selbstverteidigung verwehrt würden, wie das Teile der deutschen Linken wollen. Ein Erfolg von Putin würde allerdings auch seine Brüder im Geiste ermuntern, ihrerseits neue Kriege zu eröffnen. Auch Erdogan sähe sich bestätigt, seinen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung zu intensivieren. Andere Herrscher haben ebenfalls ihre Ansprüche gegenüber Nachbarbevölkerungen angemeldet.
Ja, die USA und andere europäischen Regierungen nutzen jetzt diesen Krieg, um Russland zu schwächen. Ja, es gibt einen geopolitischen Kontext. Das ist imperialistischer Normalzustand und eine geradezu triviale Erkenntnis. Ja, die USA rüsten die Ukraine auf. Aber erst der ukrainische Widerstand hat den Westen vor die Herausforderung umfassender Waffenlieferungen gestellt. Das alles ändert nichts daran, dass der Widerstand der ukrainischen Lohnabhängigen – obgleich in der bürgerlichen Armee – gegen eine Besatzungsdiktatur legitim ist und daher von uns auch unterstützt soll. Ja, die westlichen Regierungen liefern einigermaßen wirksame Waffen an die Ukraine – allerdings sehr selektiv und wohl dosiert. Wenn sie das nicht gemacht hätten, gäbe es eine russische Besatzungsdiktatur, und es gäbe auch keine Zivilgesellschaft, keine Gewerkschaften und keine linken und feministischen Gruppen mehr in der Ukraine, stattdessen würden aber einige Millionen mehr Flüchtlinge eine neue Heimat suchen. Das weiß auch Ingar Solty. Würde er rückblickend seine Ablehnung von Waffenlieferungen vom letzten Frühjahr immer noch richtig finden?
Ja, die US-Luftwaffe hat entscheidend dazu beigetragen, dass die YPG (Volksverteidigungskräfte) Kobane in Nordsyrien verteidigen konnten. Ohne amerikanische Truppen hätten die SDF (Syrisch demokratischen Kräfte, breites Bündnis mit YPG) den Islamischen Staat nicht aus Raqqa vertrieben. Konsequenterweise müsste Ingar Solty schreiben, dass es falsch Kobane war, mit Hilfe der USA zu verteidigen. Oder bringt das seine eigene „Aporie“ oder schlicht Unredlichkeit zum Ausdruck?
Ingar Solty rät den linken Unterstützerinnen und Unterstützern des ukrainischen Widerstands zynischer- und absurderweise internationale Kampfbrigaden zu bilden. Erst damit würden sie ihre Ernsthaftigkeit unter Beweis stellen. Zwei kurze Antworten: Es gibt keine gesellschaftlichen Kräfte in der Ukraine, die sich so etwas wünschen. Zweitens ist es offensichtlich, dass derartige Brigaden ohne schwere Waffen gegen die russische Artilleriewalze und Raketenflut weder politisch noch militärisch eine angemessene Antwort wären.
Ingar Solty wirft jenen, die sich mit dem ukrainischen Widerstand solidarisieren, etwas umständlich vor, „den bürgerlich-kapitalistischen Staat als Vehikel für ihre Politik entdecken“, obwohl sie sich doch scheinbar mit Staatskritik beschäftigt hätten. Diese Kritik ist skurril. In ihrer ganzen Geschichte haben sich unterschiedlichste Strömungen der Arbeiterinnenbewegung immer wieder – wohl oder übel – an den bürgerlichen Staat gewendet, um ihren Forderungen nach einem besseren Leben eine konkrete Gestalt zu verleihen. Ist nun der Kampf der ukrainischen Lohnabhängigen für nationale Selbstbestimmung nicht mehr berechtigt, weil sie diesen im Rahmen einer bürgerlichen Armee führen? Oder sollte man gar darauf verzichten, an die imperialistischen Staaten Forderungen zu stellen? Anstatt Unterstellungen in die Welt zu setzen, wäre es hilfreich, wenn Ingar Solty konkrete Antworten auf die anstehenden Fragen gäbe.
Debatten in der Ukraine
Ja, die Eskalation des Krieges ist ein Problem. Wichtig ist jedoch zu verstehen, wie diese Frage in der ukrainischen Gesellschaft diskutiert wird. Gilbert Achcar hat hierzu einige nützliche Überlegungen angestellt. Die westeuropäische Linke müsste gemeinsam mit den sozialen Kräften in der Ukraine solidarisch über Wege diskutieren, wie der Eskalationsspirale zu entkommen ist. Aber die Entsolidarisierung vom Widerstand hilft nicht die Eskalation zu stoppen, sondern ermuntert die Putin-Diktatur ihre Eskalation bis zur Zerstörung der Ukraine weiterzutreiben.
Wann kommt der Moment für Verhandlungen? Putin und seine Herrscherclique werden dann in Verhandlungen einwilligen, wenn sie die Einschätzung machen, dass eine Verlängerung des Kriegs ihrer Machtsicherung weniger zuträglich ist als ein Waffenstillstand. Das hat mit totalem Sieg der Ukraine oder einer Eskalation nichts zu tun. Das ist eine Situation, in der Putin eher die Souveränität der Ukraine anerkennt, als den Zerfall seiner Macht oder sogar seines Reiches zu riskieren.
Leider haben sich beträchtliche Teile der Linken in Deutschland dazu hinreißen lassen, die politische Auseinandersetzung an der Frage der Waffenlieferungen zu polarisieren und all jenen, die sich mit dem Widerstand der Ukraine solidarisieren vorzuwerfen, sie würden sich der NATO unterunterordnen. Dieser Vorwurf ist lächerlich. Denn es geht um die grundsätzliche Verbundenheit mit der widerständigen ukrainischen Bevölkerung, unabhängig davon, was die NATO macht.
Wegen dieser Zuspitzung auf die Waffenlieferungen verschließen sogar antikapitalistische Gruppierungen die Augen davor, wie es Wagenknecht & Co. gelingt, ihr „sozialkonservatives“ Formierungsprojekt in enger Allianz mit Nationalkonservativen voranzutreiben. Wagenknecht & Co. sprechen mit ihrem „Manifest für Frieden“ gezielt gleichzeitig pazifistische, linke wie auch konservative und deutsch souveränistische Milieus an. Leider tragen auch etliche Strömungen der Linkspartei zu Tendenzen der Entsolidarisierung bei, da sie sich nicht am Widerstand der ukrainischen Bevölkerung orientieren, sondern davon ausgehen, dass die Ukrainer:innen sich dummerweise für einen Stellvertreterkrieg für die NATO instrumentalisieren ließen. Die Entsolidarisierung von der Ukraine (und anderen antiimperialistischen Kämpfen) ist allerdings das primäre Projekt nationalkonservativer und rechtsextremer Kräfte. Diese einseitige Orientierung auf einen „Frieden“, der keiner sein kann, bezahlt die Linke mit einem langfristigen Glaubwürdigkeitsverlust.
Christian Zeller lehrt Wirtschaftsgeographie und Global Studies an der Universität Salzburg. Er publizierte zu global ungleicher Entwicklung, Bedeutungszunahme des Finanzkapitals, Inwertsetzung der Natur, Stadtentwicklung und Wirtschaftsdemokratie. Er setzt sich für eine transnationale ökosozialistische Bewegung von unten ein. Christian engagiert sich in der politischen Bewegung Aufbruch für eine ökosozialistische Alternative und ist Autor/Koautor mehrerer Bücher, kürzlich erschienen etwa: "Corona, Krise, Kapital. Plädoyer für eine solidarische Alternative in Zeiten der Pandemie." (2020, mit Verena Kreilinger, Winfried Wolf) sowie "Revolution für das Klima. Warum wir eine ökosozialistische Alternative brauchen." (2020) © Foto Kain