Renate Hürtgen
Der Krieg gegen die Ukraine, den Putin am 24. Februar 2022 begonnen hat, spaltet nicht nur in Deutschland die Linke. In der Community werden seitdem die unterschiedlichsten Haltungen zu diesem Angriffskrieg debattiert, die jede für sich in Anspruch nimmt, der Wahrheit über diesen Krieg am nächsten zu kommen. Dieser Kampf um die Deutungshoheit wird nicht selten erbittert und ohne jede Kompromissbereitschaft geführt. Das kann man ablehnen, bedauern, sogar verurteilen; es ändert jedoch weder etwas an dieser Situation, noch geht es den Ursachen für den aktuellen Zustand einer derart zerrissenen Linken auf den Grund. Wie erklärt sich aber, dass es in der Linken keine auch nur annähernd gemeinsame Haltung gegenüber Putins Angriffskrieg gibt? Wie ist es möglich, dass die Antworten auf die Frage nach der „Anatomie des Krieges“ (Krausz 2022) derart auseinanderfallen?
In meinem Beitrag werde ich keine hinreichende Antwort auf diese komplexe Frage geben können. Eine solche Antwort benötigte eine umfassende historische Aufarbeitung der Rolle von linkem Denken und Handeln in der aktuellen globalisierten kapitalistischen Welt. Vielmehr möchte ich versuchen, Zusammenhänge zwischen meiner politischen Sozialisation in der DDR, meiner Politisierung in Auseinandersetzung mit diesem Typ von Gesellschaft, meinen Erfahrungen im Kampf gegen die Herrschenden in Ost wie West und meiner derzeitigen Haltung zum Krieg in der Ukraine aufzuzeigen. Das ist kein Rückzug aus der historisch-kritischen Analyse, legt jedoch den eigenen Standort offen und lässt ihn nicht hinter einer scheinbar wissenschaftlichen Objektivität verschwinden. Meine Hoffnung ist, dass die inzwischen vielfach ausgetauschten Argumente auf diese Weise neu – oder überhaupt erstmals – zur Kenntnis genommen werden und dass meine Darstellung dazu anregt, sich der Entstehungsgeschichte des jeweils eigenen Standpunktes bewusster zu werden.
Warum hat Putin diesen Krieg begonnen?
Als ich am 24. Februar im Radio hörte, dass die russische Armee auf Befehl des Präsidenten Wladimir Putin am frühen Morgen die Ukraine gleichzeitig im Süden, Osten und Norden überfallen hatte, stockte wohl nicht nur mir der Atem. Doch anders als ein Teil der deutschen Linken – nur über sie kann ich hier sprechen – war ich nie blind gegenüber dem aggressiven Charakter von Putins Politik gewesen. Demgegenüber hatten Autoren einer linken Zeitung noch wenige Tage vor dem Einmarsch unter der Überschrift „Stoppt die Kriegstreiber! Warum Russland keinen Krieg will“ verbreitet, dass die NATO und reaktionäre Kreise des Westens aus leicht durchschaubarem Kalkül Putin in bösartiger Absicht eine reale Kriegsabsicht unterstellten, der – entgegen dieser Propaganda – nicht das geringste Interesse an einem Überfall auf die Ukraine hätte. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion agiere Putin immer defensiv, es spräche nichts dafür, dass er diese Position im Falle der Ukraine verlassen würde. (Braun und Wolf 2022)
Die Autoren dieses Artikels sind keine politischen Analphabeten und doch hatten sie sich derart in ihrer Prognose geirrt. Warum ist mir eine solche Fehleinschätzung nicht passiert? Seit vielen Jahren verfolge ich die sich stetig verschlechternde Situation der Opposition und Zivilgesellschaft in Russland, deren Unterdrückung durch politisch motivierte Gesetze und letztlich deren tatsächliches Verbot. Unmittelbar vor dem Kriegsbeginn im Februar 2022 wurden zahlreichen unabhängigen Medien die Arbeitsgrundlagen genommen, ihre Räume durchsucht, Materialien beschlagnahmt. Auch die Räume von Memorial gehörten dazu. Der letzten kremlkritischen Zeitung, der traditionsreichen „Nowaja Gaseta“, wurde am 6. September dieses Jahres die Zulassung entzogen. Haben jene Linke, die Putin keine kriegerischen Handlungen zutrauten, nicht gesehen, dass derartige Repressionen im Zusammenhang mit einem möglichen Kriegsbeginn stehen könnten? Wie allgemein bekannt, gehört es doch zum politischen Geschäft einer guten Kriegsvorbereitung, die potentiellen Kriegsgegner:innen im eigenen Land mundtot zu machen.
Nach dem Überfall auf die Ukraine begann auch unter der Linken die Suche nach den Gründen, die Putin veranlasst haben könnten, einen Krieg zu führen, von dem sehr schnell klar wurde, dass er nicht blitzartig gewonnen werden kann. Ins Zentrum des Interesses rückten die globalen Konstellationen wie sie sich nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums seit 1991 entwickelten: Die überstürzte Auflösung der Sowjetunion, die Unabhängigkeitsbewegungen, die zur Loslösung einiger ehemaliger Sowjetrepubliken führten, deren Beitritt zur NATO respektive zur Europäischen Union, die mündlichen Zusagen der Außenminister der USA und Westdeutschlands über die nicht beabsichtigte Ausdehnung der Nato nach Osten, die Demütigungen, die für Putin mit der militärischen, wirtschaftlichen und ideologischen Ausdehnung des Einflussgebietes des Westens einhergingen und gehen. Die Autor:innen solcher globalen politischen Analysen nennen es „die Vorgeschichte“ und beschreiben eine Dynamik, in deren Ergebnis Putin als der Bedrohte und Eingekesselte zu einer Art „Befreiungsschlag“ hatte greifen müssen. Der Angriffskrieg Putins war demnach die einzig notwendige Folge des Verhaltens der USA und der Nato gegenüber Russland. In der Rückschau erscheint es dann so, als wären alle Ereignisse auf dieser globalen Ebene ein weiterer Schritt hin zu einer erwartbaren Gegenreaktion von Putin gewesen. (Konicz 2022)
Eine solche Auffassung von historischen Prozessen ist mir aus den Zeiten der Herbstrevolution in der DDR gut bekannt. Für den liberalen Mainstream gab und gibt es bis heute keinen Zweifel daran, dass 1989 ein Volksaufstand mit dem Ziel stattgefunden hat, die deutsche Einheit unter dem Dach der BRD wieder herzustellen. Die Geschichte ist „zu sich selbst gekommen“ (Hegel), die ganze Vorgeschichte hätte auf diesen historischen Augenblick zugearbeitet. Dass sich die „Sieger der Geschichte“ gerne als solche feiern lassen, versteht sich. Aber auch von diesem Ergebnis enttäuschte Linke haben es im Nachhinein „so kommen sehen“; bereits die ersten Losungen auf den Transparenten der Montagsdemonstrationen in Leipzig hätten den reaktionären Charakter der Massenbewegung gezeigt, die weitere Entwicklung sei nur folgerichtig gewesen. In zahlreichen Vorträgen und Seminaren habe ich versucht, einem solchen Automatismus die Auffassung von der Geschichte als einem offenen Prozess entgegenzuhalten und die Dynamik der Entwicklung zu beschreiben, die die Ereignisse zwischen 1989 und 1990 nahmen. Mein Hauptaugenmerk legte ich dabei stets auf die Vorgänge, die verdeutlichen, wie sich Stimmungen und Kräfteverhältnisse in der DDR veränderten, neue Akteur:innen plötzlich die Entwicklung bestimmten, andere von der Bühne abtraten. Geschichte ist eben ein offener Prozess und keine selbsterfüllende Prophezeiung.
Die Lage in Russland
Zurück zu den Ursachen von Putins Angriff auf die Ukraine. Während also die meisten Linken sich und uns mit der Beschreibung der globalen Vorgänge die Folgerichtigkeit dieses Krieges zu erklären versuchten, setzten andere ihre Beschäftigung mit den inneren Verhältnissen in Russland fort und begannen, die politische, soziale und ökonomische Entwicklung seit Putins Amtsübernahme im Jahr 2000 genauer zu betrachten. (Sapper 2022) Es geht diesen Autor:innen darum, die inneren Widersprüchlichkeiten der russischen Gesellschaft, namentlich den Zustand der herrschenden Klasse in den Fokus zu nehmen, um hier eine Antwort auf die Frage zu finden, was Putin veranlasst haben könnte, einen solchen Krieg vom Zaun zu brechen. Es ist kein neuer und auch kein besonders origineller Gedanke, einen direkten Zusammenhang zwischen der Innen- und der Außenpolitik herzustellen und den innenpolitischen Zuständen eine besondere Bedeutung einzuräumen; und dennoch vernachlässigte die Mehrzahl der deutschen Linken diesen Konnex und beschäftigte sich bevorzugt mit der Haltung Russlands zum Westen.
Welchen Einfluss hatte die innenpolitische Lage Russlands auf Putins Entscheidung, die Ukraine zu überfallen? In den ersten Wochen nach Kriegsbeginn habe ich alles lesen wollen, was mir dazu in die Hände fiel. Die ganze Putinsche Herrschaftsgeschichte im Schnelldurchlauf. Wie er versucht hat, die Macht der Oligarch:innen, die im Zuge einer kriminellen-mafiösen Privatisierung entstanden war, zu seinen Gunsten zu organisieren und die Kontrolle über diese neue Kapitalist:innenklasse und seine eigene Macht über staatliche Verfügungen der wichtigsten Industrien zu sichern. Zur „Herrschaftsgeschichte“ Putins gehört ebenso die Genesis seiner Ideen von der Wiedererstehung des großrussischen Reiches, seine diversen Äußerungen, die unzweideutig auf die Absicht verweisen, ein solches Großreich tatsächlich errichten zu wollen. Es sind diese Ideen vom Großrussland, die den Schluss zulassen, dass Putin nicht das Ziel hat, die Sowjetunion wieder auferstehen zu lassen, weder in deren Grenzen, noch in ihrer gesellschaftlichen Verfasstheit. Aber was hat Putin nun motiviert, seine seit Jahren entworfenen Großmachtvorstellungen, tatsächlich in Angriff zu nehmen?
„Die innere Verfasstheit Russlands sollte eine Täuschung über den Charakter russischer Außenpolitik unmöglich machen.“ (Gehrke 2022) So leitet Bernd Gehrke in seinem Beitrag über den russischen Neo-Imperialismus jenen Abschnitt ein, in dem er über den Charakter des russischen Wildost-Kapitalismus spricht, der sich in seiner Brutalität wenig von dem des Wildwest-Kapitalismus in den Schwellenländern des Südens unterscheiden würde. Von den extensiven Methoden der Ausbeutung ist hier die Rede, von der Situation migrantischer Billiglöhner:innen, der neoliberalen Zurichtung der Arbeitsgesetzgebungen und der Aushebelung gewerkschaftlicher Rechte, von der großen Kluft zwischen Armen und Reichen, von der kriminellen Entstehung eines Nomenklatura-Kapitalismus, der sich auf diese Weise schonungslos bereichern konnte.
Die erhoffte Modernisierung und Diversifizierung der Wirtschaft scheiterte jedoch an der Verquickung von ebenso autoritärer wie korrupter Politik mit der monopolistisch organisierten, die gesamte Wirtschaftsentwicklung dominierenden Öl- und Gasindustrie sowie einem exorbitanten „militärisch-industriellem Komplex“. „Russland, das größte Flächenland der Erde, steht im Ranking der größten Volkswirtschaften der Welt aktuell nur auf Platz zwölf – Kopf an Kopf mit Brasilien. Und die Militärmacht mit dem größten Arsenal an Atomsprengköpfen und rund 145 Millionen Einwohnern wird sich von diesem Platz so schnell auch nicht wegbewegen.“ (Centre for Economics and Business Research 2021) Nicht nur das britische Centre for Economics and Business Research (CEBR), auch andere namhafte Wirtschaftswissenschaftler:innen kamen bereits vor dem Überfall auf die Ukraine zu dem Ergebnis, dass sich Russland in einer Phase der langfristigen Stagnation befinde und der Abstand zu den ersten fünf Industrieländern, USA, China, Japan, Deutschland und Großbritannien, eher noch wachsen werde (Emmendörfer 2022).
Es ist davon auszugehen, dass Putin solche Prognosen und den eindeutigen Befund, die wirtschaftliche Aufholjagd in absehbarer Zeit nicht gewinnen zu können, auch zur Kenntnis genommen hat. Wie aber ließe sich unter dieser Voraussetzung der Anspruch Russlands auf „alte Größe“ und Weltmachtstellung anders als über die Größe des Territoriums herstellen, über die Erweiterung des Herrschaftsgebietes durch Eroberung neuer oder Rückeroberung alter Gebiete?
Der besondere Charakter dieses Krieges
Letztlich wird ein ganzes Ursachenbündel Motiv und Anlass für Putin gewesen sein, diesen Krieg zu beginnen. Dass jedoch ein ökonomisch derart geschwächter Autokrat besonders aggressiv seine Macht verteidigt und zu „außerökonomischen“ Mitteln und Methoden greift, wenn die ökonomischen nicht zum Ziel führen, ist nun für alle sichtbar. Das ändert nichts an der Tatsache, dass die USA immer noch die militärisch und wirtschaftlich mächtigste, mit ihrem Herrschaftsanspruch die ganze Welt bedrohende, imperiale Macht ist. Wer seine Augen nicht verschließt, sieht aber auch, dass von der politischen Führung Russlands, die ihre Machtansprüche mit besonderer Aggressivität, Unberechenbarkeit und teilweisen Irrationalität durchsetzen will, derzeit eine Bedrohung bisher unbekannten Ausmaßes ausgeht.
Dieser aggressive Charakter Russischer Außenpolitik dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Regierungen Europas und der USA für die Zuspitzung der geopolitischen Spannungen mitverantwortlich sind, wie Autor:innen aus der Ukraine, Russland, Polen, der Schweiz, Österreich und Deutschland in einem gemeinsam verfassten Papier betonen. Sie beschreiben ein Geflecht von politischer Einflussnahme, finanzieller, militärischer Unterstützung und ökonomischen Interessen an den ehemaligen Sowjetrepubliken. „Das Kapital in den imperialistischen Ländern Europas und Nordamerikas suchte nicht nur neue NATO-Mitglieder, sondern wollte primär weitere Märkte erschließen und günstige Rohstoffe beziehen. Dafür brauchte es Regierungen, die den gesellschaftlichen Transformationsprozess geordnet und notfalls auch mit Gewalt organisieren konnten.“ (Budraitskis et.al. 2022) Daraus folgt einerseits, dass sich mit der Stärkung des ukrainischen Widerstandes eine Chance für den Westen ergeben hat, die geopolitische Position Russlands zu schwächen, andererseits werden die wirtschaftlichen Beziehungen, das eigentliche Interesse des westlichen Kapitals, unter diesem Krieg erheblich leiden. Es lässt sich beobachten, dass die USA, aber auch Deutschland und andere EU-Staaten kein bevorzugtes Interesse an der Fortsetzung dieses Krieges haben; zahlreiche Unternehmer:innen plädieren bereits für eine Beendigung des Krieges, namentlich, wenn sie nicht zu den Nutznießern der Sanktionen gehören. Der Krieg zeigt auch, dass der „kollektive Westen“ nicht existiert, er ist gespalten und von den verschiedensten Interessen geleitet.
Welchen Charakter hat also dieser Krieg? Mein politisches Denken und Handeln ist maßgeblich davon geprägt worden, in einem Land gelebt zu haben, das vom „großen Bruder“ Sowjetunion besetzt war, welcher im Falle einer gesellschaftlichen Auflehnung gegen das exportierte politische und ökonomische Modell solche „Abnabelungen“ stets mit militärischer Gewalt verhinderte. Die Situation für die oppositionelle sozialistische Linke im Osten, auch in der DDR, war insofern immer eine doppelte: Ihr Kampf richtete sich stets gegen die Politik der Herrschenden im eigenen Land, gegen deren Vasallentum und gegen die sowjetischen Besatzer:innen. Die Zerschlagung der Reformbewegungen in der ČSSR 1968 steht beispielhaft für diese quasi doppelte Unterdrückung in den sogenannten Satelitenstaaten des sowjetischen Imperiums. Erst mit dessen Zerfall war der Weg für eine eigenständige Entwicklung frei. Die Bevölkerung der DDR erkämpfte sich im Zuge der revolutionären Ereignisse im Herbst 1989 diverse bürgerliche Rechte, darunter öffentliche Räume für demokratische zivile Bewegungen. Und nach den Jahren der Unterdrückung einer autonomen Arbeiter:innenbewegung streikten und demonstrierten die Beschäftigten der DDR-Betriebe wieder; die Streik- und Protestwelle gegen die Politik der Treuhandanstalt in den frühen 1990er Jahren ist legendär. Spätestens seit dem Umbruch 1989 in der DDR habe ich die Bedeutung bürgerlicher Rechte als notwendige Voraussetzung für emanzipatorische Lernprozesse begriffen.
Diese Erfahrung scheint mir ein Schlüssel dafür zu sein, dass ich keinen Augenblick gezögert habe, den Ukrainer:innen ein Recht auf Verteidigung ihres Landes zuzusprechen, dem nach der „Einnahme“ durch die russische Armee jede eigenständige Entwicklung unmöglich werden würde. Es scheint mir nicht irreführend, den Widerstand der Ukrainer:innen gegen die alten und neuen Besatzer:innen, mit antikolonialen Befreiungskämpfen, etwa denen in Algerien oder Vietnam geführten, zu vergleichen (Balibar 2022). Der historische Vergleich hat seine Grenzen, zweifelsohne jedoch führen die Ukrainer:innen einen Verteidigungskrieg gegen den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf ihr Territorium und gegen die quasi koloniale Einverleibung ihres Landes in ein großrussisches Imperium. Mit einem solchen Ansatz werden die historisch bekannten Widersprüche eines antikolonialen Kampfes nicht ignoriert, mit ihm wird allerdings klargestellt, dass hier kein Krieg zwischen zwei verfeindeten gleichsam korrupten kapitalistischen Staaten stattfindet, sondern der Angriff eines imperialen Staates auf die Souveränität eines weit schwächeren Nachbarstaates.
Der Blick auf den Osten
So folgerichtig und selbstverständlich für mich diese Einschätzungen schon bald nach dem Kriegsbeginn gewesen waren, so scharf blies der Gegenwind aus der deutschen Linken. Die Vertreter:innen der Gegenposition bringen in Anschlag, dass der militärische Widerstand gegen den Angreifer Russland erfolglos sei und nur den Krieg verlängere; dass die Ukrainer:innen im Interesse der Verhinderung eines 3. Weltkrieges nicht mit Gewalt, sondern mit zivilem Ungehorsam reagieren sollten; dass dieser Krieg ein Stellvertreter:innenkrieg sei, ein Krieg zwischen West und Ost, da sich die Ukraine längst zum Spielball der USA gemacht hätte; dass die Ukraine ein kapitalistischer Staat sei, in dem die extreme Rechte die Politik bestimme und somit für Linke nicht der Verteidigung würdig.
Mit jedem dieser Vorschläge habe ich mich auseinandergesetzt und bald bemerkt, dass die Vertreter:innen der sehr unterschiedlichen Argumentationen eines gemeinsam haben. Sie betrachten alle die Ukraine als Objekt der Begierde, als fremdgesteuert, als Spielball der Großmächte; folgerichtig fragen sie nicht danach, welches die eigenen legitimen Bedürfnisse und Interessen der Ukrainer:innen in dieser Situation sind, geben jedoch Ratschläge, wie sie sich in diesem Krieg verhalten sollten; sie fordern die Ukrainer:innen auf, ihr Streben nach Unabhängigkeit aufzugeben, um weiteres Blutvergießen zu beenden; sie reden über sie, aber nicht mit ihnen. Sie fragen auch nicht danach, was die linken und demokratisch Bewegten in der Ukraine sagen und tun, nehmen sie meist gar nicht zur Kenntnis und streiten ihnen in der Regel ein emanzipatorisches Potential ab.
Solche Haltungen haben mich schlagartig in die Zeit des Umbruchs 1989 in der DDR zurückversetzt. Déjà-vu! Bereits damals hatte sich der Großteil der antikapitalistischen Linken im Westen nicht für die Situation in der DDR interessiert, nicht für die Lage der Lohnarbeiter:innen und auch nicht für die zugegebenermaßen sehr kleine Opposition. Diese geringe Kenntnis hielt sie jedoch nicht davon ab, ihr oben erwähntes Urteil über den reaktionär-konservativen Charakter der Bewegung sehr schnell zu fällen und der DDR-Opposition Ratschläge für deren politische Arbeit zu erteilen, vor allem, sie zu ermahnen, die möglichen Folgen ihres Tuns gut zu bedenken. So wurde ich in meiner damaligen politischen Aktivität, der Gründung einer von der Staatsgewerkschaft FDGB unabhängigen Gewerkschaftsbewegung, von den einen Linken aus dem Westen kritisiert, keine Arbeiter:innenpartei gründen zu wollen, von anderen, die Spaltung der Gewerkschaften zu provozieren. Und fast alle waren sich darin einig, dass diese betriebliche Basisbewegung keinen linken antikapitalistischen Charakter trüge und damit nur sehr eingeschränkt unterstützenswert sei. Die meisten waren sich der Arroganz ihres Auftretens sicher nicht bewusst, mit der sie über eine gesellschaftliche Bewegung urteilten, deren historische Bedeutung ihnen offensichtlich entgangen war.
Da ich nicht nur eine Beobachterin der Transformation in der DDR gewesen bin, sondern aktiv beteiligt, hat mich darüber hinaus von Anbeginn die weit verbreitete Meinung vieler Linker im Westen empört, die Bevölkerung des Ostens sei ein Opfer der Interessen des westlichen Kapitals, verführt und verblendet von den Versprechungen des goldenen Westens, hieß es damals und heißt es heute, so dass sie leichte Beute „westlicher Hybris und westlichen Geschäftssinns“ werde (Flassbeck 2022). Was für eine Vereinfachung der inneren Widersprüchlichkeiten osteuropäischer Entwicklungen und was für eine Ignoranz gegenüber den in der DDR und in den Ländern des Ostblocks liegenden Ursachen für den verbreiteten Wunsch, in einer Gesellschaft westlichen Typs leben zu wollen!
Meine von vielen Linken so verschiedene Meinung zum Charakter des Krieges in der Ukraine ist nicht das Ergebnis besseren politischen Wissens um die globalen Zusammenhänge oder tieferer Einsichten in die Geschichte der Ukraine und Russlands. Sie beruht vor allem auf der Erfahrung, Teil einer gesellschaftlichen Bewegung gewesen zu sein, die sich nicht nach den Vorstellungen mehr oder weniger kluger linker Strategen richtete, sondern ihre eigene widersprüchliche Dynamik entfaltete, die es zu begreifen gilt. Sie beruht auch auf der Begegnung mit westlichen „Ratgeber:innen“, die solche Erfahrungen nicht interessierten, weil ihre Meinung respektive ihr Urteil über den Charakter dieser Bewegungen bereits feststanden.
Vom Recht der Ukraine auf Widerstand
Für mich dagegen war selbstverständlich, dass ich mich „mit rechthaberischen Kommentierungen des Krieges aus der Ferne“ (Arps 2022) nicht zufriedengeben werde und dass ich eine Einschätzung des Charakters dieses Krieges nicht würde treffen können, ohne zu wissen, in welcher Lage sich diejenigen befinden, die seit Jahren in den verschiedensten linken Gruppen, Medien und sozialen Initiativen in der Ukraine aktiv sind. Wie denken die feministischen, anarchistischen, trotzkistischen, libertären und demokratischen Akteur:innen einer emanzipatorischen Zivilgesellschaft, die kritischen Historiker:innen und Soziolog:innen, die unabhängigen Gewerkschafter:innen und Sozialarbeiter:innen über diesen Krieg? Wie verhalten sie sich in dieser schrecklichen Situation, welche Debatten führen sie, wie verlaufen in der ukrainischen Linken die Differenzen? Solche Fragen stellen naturgemäß diejenigen nicht, die den Krieg als globalen Kampf um Einflusssphären analysieren und die Ukraine als Opfer dieses Machtkampfes betrachten. Wer jedoch diese globale Ebene verlässt und die Ukrainer:innen als eigenständig handelnde Subjekte ansieht, der wird den Charakter dieses Krieges besser erfassen können. Welchen Erkenntniswert es haben kann, sich namentlich die Haltungen der ukrainischen Linken genau anzugucken, möchte ich am Ende meines Beitrages kursorisch beschreiben.
Die ukrainische Linke ist marginal, die Gruppen und Initiativen, die seit einiger Zeit Zulauf von Geflüchteten aus Russland und Belarus bekommen, bestehen aus maximal 200 Mitgliedern, manche nur aus wenigen Personen. Sie verstehen sich als trotzkistisch, radikal-feministisch, anarchistisch, libertär oder demokratisch, einige arbeiten in sozialen Bewegungen und Gewerkschaften. In ihrem Selbstverständnis schließen sie die postkommunistischen Parteien und Gewerkschaften aus. Meine Erfahrung aus DDR-Zeiten hilft mir, deren Bedeutung trotz ihrer geringen Anzahl von Aktiven zu begreifen. Die DDR-Opposition zählte wohl nicht mehr Mitglieder als die ukrainische heute und agierte weitgehend isoliert von der übrigen DDR-Gesellschaft. Dennoch hat sie die Entwicklung vorangetrieben und wurde in der Herbstrevolution zu einer entscheidenden Akteurin, die den Massenbewegungen eine Richtung gab.
Welche Haltungen hat diese ukrainische Linke zum Krieg und wie verlaufen dort die Differenzlinien? Es scheint, als würde es, anders als in der russischen Linken, die viel breiter aufgestellt ist und wo die Standpunkte zum Teil weit auseinanderliegen, wenig Kontroversen unter ihnen geben (Kasakow 2022). Es drängt sich der Eindruck auf, der Angriffskrieg habe nicht nur die ukrainische Bevölkerung über bestehende Differenzen hinweg zusammengeschweißt, sondern auch die bisher zerstreut agierenden linken Bewegungen und Parteien. Besonders eindrucksvoll zeigt sich diese Einheit an der Frage nach dem Recht auf Verteidigung der Ukraine, inklusive dem Recht auf militärische Gegenwehr. Während sich in Deutschland die Linke an dieser Frage gerade zerfleischt und die Befürworter:innen eines militärischen Widerstandes schnell in die militaristische Ecke gestellt werden, verläuft die Debatte dort gänzlich anders.
Acht Tage vor dem russischen Einmarsch am 24. Februar 2022 veröffentlichte eine Gruppe von ukrainischen antiautoritären Aktivist:innen einen längeren Text über ihre Rolle und ihr politisches Selbstverständnis seit dem Maidan. Sie beschreiben darin auch, was im Falle eines zu erwartenden Überfalls Russlands zu tun sei: „Ist es sinnvoll, im Falle einer Invasion gegen die russischen Truppen zu kämpfen? Wir glauben, dass die Antwort darauf Ja lautet. Zu den Optionen, die ukrainische Anarchist*innen derzeit in Betracht ziehen, gehören der Beitritt zu den Streitkräften der Ukraine, die Beteiligung an der Territorialverteidigung, der Aufbau von Guerilla-Einheiten und die Bereitstellung von zivilen Freiwilligen.“ (Anonymus 2022) Fast prophetisch haben sie vorausgesehen, was wenig später so oder ähnlich nicht nur unter Anarchist:innen diskutiert wurde: Wie beteiligen wir uns, wer meldet sich zu einer Territorialeinheit, wer organisiert Hilfeleistungen für die Kämpfenden, wer unterstützt den zivilen Bereich der Verteidigung? Wer geht ins Ausland und unterstützt von dort den Widerstand? Es entstanden von Libertären und Autonomen gegründete Netzwerke wie „Resistance Commitee“, die bewaffnete Territorialeinheiten bilden und Gruppen wie „Operation Solidarity“, die diese praktisch unterstützen. Hinter der Notwendigkeit, sich mit Gewalt zur Wehr zu setzen, stünde alles andere zurück. (Denis 2022) Was in der deutschen Linken zu unerbittlichen Lagerbildungen führt, wird in der ukrainischen Linken dem Gedanken untergeordnet, Putins Armee mit allen Mitteln wieder aus dem Land zu jagen.
Was steckt hinter diesem gleichermaßen entschlossenen Widerstandswillen gegen die russischen Okkupant:innen? Die Antwort auf diese Fragen ist ein Lehrstück historischer Gesellschaftsanalyse. Während in der deutschen Linken geargwöhnt wird, dass die ukrainische Linke von einem nationalistischen Patriotismus erfasst sei, der, das wisse man ja, in Kriegszeiten stets aufleben und klassenkämpferische Positionen verdrängen würde, erklären uns die Genoss:innen und Freund:innen aus der Ukraine, dass sie ums Überleben kämpften, um ihr physisches und ihr Überleben als linke Aktivist:innen. Sie sind sich einig: Unter russischer Besatzung käme für sie alle das Aus, für die anarchistischen und feministischen Gruppen, für die sozialen Initiativen und auch für die unabhängigen Gewerkschaften, so der Vorsitzende der unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft aus Krywyi Rih (Vogel 2022). Patriotismus als Überlebensstrategie.
Ich erfahre bei dieser Gelegenheit, dass die ukrainische Linke vor dem Krieg von radikalen Nationalist:innen und Faschist:innen bedroht wurde und dass sie sich in ständigem Kampf mit einer neoliberalen Politik und einer konservativen Bevölkerung behaupten musste. Ich erfahre aber auch, dass für sie die Situation in Russland weit gefährlicher ist, weswegen in den letzten Jahren viele aus Russland und Belarus in die Ukraine geflüchtet sind. Es wäre notwendig, dass sich die deutsche Linke solche Erfahrungen zu eigen machte, die spätestens seit dem Maidan mehrheitlich dahin tendiert, den faschistischen Charakter der Ukraine zu betonen und herunterspielt, dass das Putin-Regime längst zur Speerspitze einer reaktionären bis faschistischen Bewegung mit Jair Bolsonaro in Brasilien, Marine Le Pen in Frankreich und der AfD in Deutschland geworden ist. Bis heute fehlt eine differenzierte linke Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung der Ukraine, insbesondere des Stellenwertes von Nationalismus und Faschismus in der Gesellschaft.
Die politischen Reaktionen der ukrainischen Linken auf diese Kriegssituation ist in mehrerer Hinsicht lehrreich. So gelingt es namentlich den linken demokratischen sozialen Bewegungen und unabhängigen Gewerkschaften in der Ukraine, ihre bisherige Kritik an der neoliberalen Politik der Regierung ungeachtet der Tatsache fortzusetzen, dass sie sich in einer gemeinsamen Verteidigung gegen den russischen Aggressor befinden. Witalij Dudin, Anwalt für Arbeitsrecht und Vorsitzender der linken Organisation „Sozialny Ruch“, beschreibt, wie unter dem Kriegsrecht die Schwäche der Arbeiter:innenklasse ausgenutzt, Arbeitsrechte ausgehebelt und unternehmerfreundliche Gesetze verabschiedet werden (Dudin 2022). Als unabhängige Gewerkschafter:innen und Mitglieder linker sozialer Bewegungen würden sie trotz „Kriegsrecht“ den Kampf gegen diese dramatische Verschlechterung der Lage der ukrainischen Arbeiter:innen aufnehmen. Allerdings, so zeigen erste kleine Erfolge bei der Zurückdrängung solcher Gesetze, kann dies nur mit Hilfe internationaler Unterstützung erfolgreich sein.
Die ukrainischen Linken stehen einerseits zusammen mit anderen Ukrainer:innen im Kampf gegen den Aggressor, der ihr Land besetzen und alles Emanzipatorische vernichten will, sie kämpfen andererseits gegen Staat und Unternehmer:innen im eigenen Land, die die Lage der arbeitenden Bevölkerung drastisch verschlechtern wollen. Sie fordern internationale Solidarität und praktische Hilfe für beide ihrer Kämpfe, weil sie ohne eine solche – seien es Waffenlieferungen oder die Unterstützung durch internationale Gewerkschaften – diese Kämpfe verlieren werden (Bilous 2022). Das ist die Realität für die ukrainische Linke, eine Realität, die keinem „rotem Lehrbuch“ folgt und der mit klassenkämpferischen Parolen wie: „Der Feind steht im eigenen Land“ nicht beizukommen ist. Das linke Dogma, mit dem jeder positive Bezug auf die Nation und folgerichtig jede Art der nationalen Verteidigung als Teufelszeug abzulehnen sei, erweist sich als unbrauchbar, die Situation der Ukrainer:innen und auch den Charakter dieses Krieges zu begreifen. Ich bin wieder an meine Erlebnisse aus der Umbruchszeit 1989/90 in der DDR erinnert, als ich fassungslos dem „antideutschen“ Hass gegenüberstand, der sich vor allem gegen die Ostdeutschen richtete. Diese mehrheitlich Linken aus dem Westen hatten sich offensichtlich noch nie damit beschäftigt, wie es sich in der verriegelten DDR mit der deutschen Nachkriegsteilung gelebt hat, stellten 1989 aber den Wunsch nach einer nationalen Einheit umgehend als nationalistisch an den Pranger.
Es ist das unter Linken verbreitete Misstrauen gegenüber Bewegungen, denen gern nachgesagt wird, sie wüssten die Folgen ihres Tuns nicht einzuschätzen, sie würden sich falschen Hoffnungen hingeben, sie liefen falschen Zielen nach. Hier hilft mir mein eigenes Erleben ein weiteres Mal, solche Zuweisungen zu vermeiden. Die ukrainische Linke weiß auch ohne Ratschläge von außen, was sie zu tun hat. Sie agiert mit dem Pragmatismus des Schwächeren in einer Realität, in der ihr Land verteidigt werden muss, in der sie Waffen von der Nato fordert und in der sie mit der möglichen Zukunft eines EU-Beitritts konfrontiert wird. Sie muss auch nicht über die Unsicherheit solcher „Bündnisse“ mit dem Westen belehrt und vor den Folgen eines EU-Beitritts gewarnt werden (Slobodian 2022). Sie wird ihren Kampf gegen die neoliberalen Bedrohungen, gegen die Oligarch:innen und gegen Korruption weiterführen und sie wird sich in den weltweiten Kampf gegen den Klimawandel mit der Forderung nach sofortigem Importstopp fossiler Energien einmischen (Graack 2022). Sie ist mit ihren Fragen und Problemen Teil einer weltweiten linken Bewegung, in der voneinander gelernt wird und keine besserwisserischen Ratschläge erteilt werden.
Welchen Charakter hat dieser Krieg? Mein Fazit: Seit dem 24. Februar 2022 führt die Ukraine einen mit allen Mitteln zu unterstützenden Verteidigungskrieg gegen einen imperialistischen Aggressor. Der Ausgang ist angesichts der Schwäche der Ukraine ungewiss. Offen bleibt auch, ob die rechten Nationalist:innen am Ende gestärkt aus diesem Krieg hervorgehen werden oder die demokratischen und linken Bewegungen einen Aufschwung bekommen. Das aber entscheidet sich nicht allein in der Ukraine, sondern hängt davon ab, wie die Welt nach dem Krieg aussehen wird und ob eine mögliche progressive Bewegung in der Ukraine genügend Unterstützer:innen findet. Geschichte ist und bleibt ein offener Prozess.