Christian Zeller
Kritik zweier offener Briefe an Bundeskanzler Scholz
Die öffentliche Diskussion über die Politik Deutschlands gegenüber dem russischen Besatzungskrieg verläuft ausgesprochen kontrovers. Die Positionen verlaufen oftmals quer und durch die etablierten politischen Lager hindurch. Die Debatte wird auch über offene Briefe an die Regierung ausgetragen. Im diesem Beitrag erweitere ich meine in der Berliner Zeitung am 28. April publizierte Kritik an einem dieser offenen Briefe.[1] Die Diskussion schneidet für die Entwicklung transnationaler Solidarität zentrale Fragen an.
Am 22. April forderten 18 Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und Kultur – darunter Daniela Dahn, Jürgen Grässlin, Mohssen Massarrat, Norman Paech und Konstantin Wecker – in einem in der Berliner Zeitung veröffentlichten offenen Brief an Bundeskanzler Scholz die Waffenlieferungen an die Ukraine zu stoppen.[2] Mit ihrem am 29. April in der Zeitschrift Emma publizierten offenen Brief an Bundeskanzler Scholz erzielen 28 Intellektuelle und Künstler:innen eine beachtliche Breitenwirkung. Dabei argumentieren sie noch allgemeiner und oberflächlicher als die Autor:innen des ersten offenen Briefes. Den zweiten offenen Brief unterschrieben auf der Plattform Change.org bis zum 10. Mai immerhin fast 270 000 Personen. Darin wird Scholz aufgefordert, sich auf seine ursprüngliche Haltung zu besinnen und keine Lieferungen schwerer Waffen an die Ukraine zuzulassen.[3]
Problematisch an beiden offenen Briefen ist weniger, dass sie sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine aussprechen, sondern dass sie keine Empathie für den Widerstand der ukrainischen Bevölkerung gegen den russischen Besatzungskrieg zeigen und aus einem verengten Blick der nun scheinbar gefährdeten Sicherheit in Deutschland argumentieren. Sie beanspruchen über die Köpfe der Angegriffenen, Vertriebenen und Widerständigen hinweg zu wissen, was gut oder schlecht für diese sei. Im Kern fordern beide Briefe, die ukrainische Bevölkerung müsse nun ihre Souveränität für die Erhaltung des Weltfriedens opfern. Dies ist weit entfernt von einer solidarischen Position. Beide Briefe verharmlosen und dulden letztlich den russischen Imperialismus.
Führt ein Waffen lieferndes Land Krieg?
In einem Moment, in dem das NATO-Land Türkei die kurdische Bevölkerung im Irak und Syrien großflächig mit Luftangriffen und schwerer Artillerie terrorisiert, fordern die Unterzeichnenden der beiden offenen Briefe nicht etwa den Stopp der Waffenlieferung an die Türkei. Die Unterzeichnenden kritisieren auch nicht die umfangreichen Waffenexporte Deutschlands an die Diktatur in Saudi-Arabien, die die Bevölkerung im Nachbarland Jemen massakriert. Sie protestieren vielmehr gegen die Waffenlieferungen an die Ukraine, die sich seit über zwei Monaten überraschend erfolgreich den russischen Invasions- und Besatzungstruppen entgegenstellt. Die beiden offenen Briefe erklären sich nicht solidarisch mit der kurdischen Bevölkerung und ihrer Befreiungsbewegung oder den Vergessenen im Jemen, sondern sie empfehlen den Menschen in der Ukraine sich der russischen Übermacht zu ergeben und eine militärische Besatzungsdiktatur zu akzeptieren. Während der erste offene Brief die Irrungen wesentlicher Teile der deutschen Friedensbewegung offenbart, drückt der eine Woche später publizierte offene Brief die überhebliche und bornierte Sicht zumeist liberaler Intellektueller und Kulturschaffenden aus.
Ausgangspunkt beider Briefe ist die Warnung „vor einer unbeherrschbaren Ausweitung des Krieges mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Welt“ (Berliner Zeitung) bzw. „das Risiko der Ausbreitung des Krieges innerhalb der Ukraine; das Risiko einer Ausweitung auf ganz Europa; ja, das Risiko eines 3. Weltkrieges“ (Emma). Ja, das Risiko einer Ausweitung des Krieges besteht. Doch es ist das Putin-Regime, das den Krieg eskaliert und sogar den Einsatz von Atomwaffen andeutete. Der in der Emma publizierte Brief warnt: „Die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen allerdings könnte Deutschland selbst zur Kriegspartei machen.“ Der zuvor in der Berliner Zeitung publizierte Brief meint gar: „Mit der Lieferung von Waffen haben sich Deutschland und weitere NATO-Staaten de facto zur Kriegspartei gemacht.“ Das ist falsch. Wenn diese Aussage richtig wäre, hätten sich einzelne NATO-Staaten bereits in vielen Kriegen zur Kriegspartei gemacht und die UdSSR und China wären kriegsführende Länder in Vietnam gegen die USA gewesen. Wir wären somit längst in einer weltkriegsähnlichen Situation. Wir alle wissen, dass dem nicht so ist.
Waffenlieferung bedeuten keineswegs, ein kriegsführendes Land zu sein. Das weiß Putin, denn sein Regime liefert selber viele Waffen an Kriegsparteien, ohne direkt selber Krieg zu führen. Das wissen auch die Verantwortlichen der NATO. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass diese derzeit einen Krieg gegen Russland anstreben. Der offene Brief schreibt, Waffenlieferungen würden den Krieg und das Blutvergießen verlängern. Das ist aus historischen Erfahrungen eine nicht belegbare Behauptung. Es gibt Kriege die durch Waffenlieferungen verlängert wurden, beispielsweise jener zwischen dem Irak und dem Iran in den 1980er Jahren. Andere Kriege wurden durch Waffenlieferungen nicht verlängert. Haben die Waffenlieferungen der USA an die Sowjetunion den Zweiten Weltkrieg verlängert?
Warum scheiterte die russische Kriegsmaschinerie bislang?
Der Krieg werde auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung ausgetragen, schreiben die Initiant:innen des ersten Briefs. Ja, das ist richtig. Doch sie verschweigen willentlich einen entscheidenden Sachverhalt. Die russische Militärmaschinerie scheiterte in der ersten Kriegsphase, die Ukraine zu besetzen und eine Marionettenregierung einzusetzen. Warum? Der ukrainische Widerstand ist viel stärker als Putin erwartete. Er übertrifft auch massiv die Erwartungen der NATO- und EU-Regierungen. Zu Kriegsbeginn empfahlen die US- und die britische Regierung dem ukrainischen Präsidenten Selenskyi das Land zu verlassen und aufzugeben. Die meisten westlichen Regierungen gingen von einer raschen Niederlage der Ukraine aus. Darin waren sie mit Putin einig. Zum Glück haben sie sich geirrt, denn sonst gäbe es keine ukrainische Zivilgesellschaft mehr.
Die Ukraine erhielt von 2014 bis 2022 4 Milliarden USD Militärhilfe durch die USA. Seit mindestens 2015 bildete die US-Armee auch ukrainische Truppen aus, allerdings in relativ geringem Ausmaß.[4] Doch ein Großteil der militärischen Unterstützung floss erst nach Kriegsbeginn.[5] Von 2014 bis 2021 betrug die direkte Militärhilfe 2,4 Milliarden US Dollar. Mitte April kündigte Präsident Biden ein weiteres Militärhilfeprogramm für die Ukraine im Wert von 750 Mio. USD an.[6] Israel, Ägypten, Jordanien, Pakistan, Saudi-Arabien und die Türkei erhielten wesentlich höhere Waffenlieferungen. Die deutschen Waffenexporte an die Ukraine waren bislang relativ gering, ungleich größer waren die deutschen Waffenexporte seit 2014 – trotz Embargo – an Russland und sogar bis in jüngste Zeit.[7]
Entscheidend für die gegenwärtige Situation ist der Widerstand der Ukraine. Und nach allen Meldungen und Erfahrungsberichten, auch von Gewerkschaften, Organisationen der Zivilgesellschaft sowie sozialistischen und anarchistischen Gruppierungen in der Ukraine ist dieser Widerstand gesellschaftlich breit abgestützt. Nur auf der Grundlage dieses gesellschaftlichen Widerstandswillens konnte die Ukraine bislang gegen die russische Übermacht bestehen. Gewerkschaften, Nachbarschaftsstrukturen und freiwillige Territorialverteidigungseinheiten in den Wohnorten garantierten, dass die Zivilgesellschaft überleben konnte.
Erst auf Grundlage dieses erfolgreichen Widerstands mussten sich die NATO-Länder überhaupt der Herausforderung der Waffenlieferung an die Verteidiger:innen stellen. Diesen entscheidenden Punkt verschweigen beide offenen Briefe. Diese Missachtung des ukrainischen Widerstands ist das zentrale Versagen der Friedensbewegung. Sie beachtet das gesellschaftliche Handeln in der Ukraine nicht und sie entsagt der ukrainischen Zivilgesellschaft ihre Solidarität. Die enge geopolitische Brille, die nur den Blick auf die Großmächte und ihre Regierungen freigibt, blendet derartige gesellschaftliche Dynamiken aus.
Im ersten offenen Brief steht, dass sich die Kriegsverbrechen häufen. Richtig. Doch warum verschweigen die Autor:innen, wer die große Überzahl dieser Kriegsverbrechen begeht? Das ist die russische Armee. Schließlich befinden sich keine ukrainischen Truppen auf russischem Territorium. Der Aufruf zeigt sich sogar im Aufschrei gegen Kriegsverbrechen bewusst unklar und damit letztlich einseitig. Damit soll die Misshandlung russischer Kriegsgefangener durch ukrainische Soldaten nicht verharmlost werden.
Militärische Besatzungsdiktatur akzeptieren?
Die Unterzeichnenden beider offenen Briefe warnen zu Recht vor der Ausweitung des Krieges und einer nicht mehr kontrollierbaren Eskalation bis hin zum großen Krieg mit Atomwaffen. Diese Gefahr ist nicht zu unterschätzen. Dennoch bleiben diese Warnungen plakativ. Der in der Emma veröffentlichte Brief relativiert den expansionistischen Charakter der russischen Herrscherclique. „Dass die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt allein den ursprünglichen Aggressor angehe und nicht auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern“, sei ein Irrtum. In welcher internationalen Ordnung leben wir, wenn eine imperiale Großmacht nur mit der Drohung des Einsatzes von Atomwaffen ganze Gesellschaften zur Unterwerfung zwingen kann? Macht das Schule, haben wir die Tür zur Barbarei aufgerissen. Es ist geradezu fatal, wenn die politische Legitimität eines imperialen Regimes, das solche Drohungen ausstößt, nicht nur akzeptiert wird, sondern den Opfern auch geraten wird, sich unterzuordnen. Anstatt den Drohungen nachzugeben, müssen sich die sozialen Bewegungen viel mehr überlegen, wie Gesellschaften durch internationale praktische Solidarität bis hin zur Sabotage militärischer Infrastruktur solchen Drohungen entgegenwirken können. Jede emanzipatorische Bewegung muss dazu beitragen, die Legitimität solcher Regierungen auszuhöhlen.
Die Unterzeichnenden des ersten offenen Briefs wähnen die ukrainische Armee „der russischen weit unterlegen“. Sie habe „kaum eine Chance, diesen Krieg zu gewinnen“. Diese Einschätzung ist arrogant, ahistorisch und herrschaftsgläubig. Der ukrainische Widerstand hat in der ersten Phase des Krieges bereits bewiesen, dass sich eine zahlenmäßig und waffentechnisch überlegene Armee zurückschlagen lässt. Das haben vor ihr schon viele Verteidigungskriege und Rebellenarmeen bewiesen. Zudem ist ein militärisches Kräfteverhältnis zugleich ein politisches. Je länger der ukrainische Widerstand durchhält, desto stärker erschöpft sich die russische Kriegsmaschinerie und desto eher treten Risse im Putin-Regime auf. Beide offenen Briefe empfehlen der Ukraine schlicht die Kapitulation. Der Unterzeichnenden des ersten Briefs meinen, Waffenlieferung und militärische Unterstützung verlängerten nur den Krieg und vergrößerten das Leid. Sie gehen also davon aus, dass sich unter den Bedingungen einer militärischen Besatzungsdiktatur und massenhafter Deportation von potentiellen Oppositionellen eine lebendige Zivilgesellschaft herausbilden könne, die schließlich die russischen Truppen friedlich zum Abzug zu bewegen vermag. Diese Vorstellung mutet geradezu grotesk an. Sie nimmt die vom Putin-Regime selber offen formulierten Kriegsziele nicht ernst. Putin erklärte seit 2014 mehrfach in aller Offenheit und Klarheit, dass er das Existenzrecht der Ukraine als Staat und einer ukrainischen Nation bestreitet. Auf welche historischen Erfahrungen beziehen sich die Unterzeichnenden, wenn sie meinen, dass sich unter den Bedingungen einer militärischen Besatzungsdiktatur eine starke und lebendige Zivilgesellschaft herauszubilden vermag, die dem Besatzungsregime letztlich ein Ende bereiten kann? Erinnern sich die Unterzeichnenden noch an die Anfänge der syrischen Revolution? Als im April 2011 die Menschen in Syrien äußerst diszipliniert und friedlich auf die Straße gingen, ließ Diktator Assad immer wieder in die Menge schießen. Schließlich bombardierte seine Armee ganze Städte. Das reichte jedoch nicht, um den Widerstandswillen der Menschen zu brechen. Putin und seine Generäle machten ab 2015 Aleppo und andere Städte dem Erdboden gleich. Das gleiche Personal bombardiert jetzt Städte in der Ukraine.
Kapitulation als Vorsorge gegen weitere Eskalation?
Beide offenen Briefe bedauern das Zurückweichen vor völkerrechtswidriger Gewalt. Im ersten Brief heisst es, das sei die „einzig realistische und humane Alternative zu einem langen zermürbenden Krieg.“ Deshalb sei der erste und wichtigste Schritt „ein Stopp aller Waffenlieferungen in die Ukraine, verbunden mit einem auszuhandelnden sofortigen Waffenstillstand“. Die Unterzeichner:innen empfehlen konkret, „den militärischen Widerstand – gegen die Zusicherung von Verhandlungen über einen Waffenstillstand und eine politische Lösung – zu beenden. Die bereits von Präsident Selenskyj ins Gespräch gebrachten Angebote an Moskau ‒ mögliche Neutralität, Einigung über die Anerkennung der Krim und Referenden über den zukünftigen Status der Donbass-Republiken ‒ bieten dazu eine reelle Chance.“ Schließlich wünschen sich die Unterzeichnenden doch den „raschen Rückzug der russischen Truppen und die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine“.
Bekanntlich werden Waffenstillstände auf der Grundlage eines konkreten Kräfteverhältnisses abgeschlossen. Putin hat auch in diesen Tagen wieder unmissverständlich klargemacht, dass er keinen Spielraum für Verhandlungen sehe. Was soll die Ukraine tun, wenn Putin weitergehende Ziele wie die Teilung des Landes verfolgt? In der Logik der beiden offenen Briefe müsste die Ukraine dann aufgeben und sich quasi ihrem Schicksal fügen.
Die Ratschläge der beiden Briefe laufen darauf hinaus, dass die Ukraine mindestens auf den Osten und die Hafenstädte im Süden des Landes, auf Reparationszahlungen und auf eine gerichtliche Verfolgung der Schuldigen dieses Krieges verzichtet. Dabei gehen die von Putin geäußerten Kriegsziele weit darüber hinaus. Ist es denn nicht verständlich, dass beträchtliche Teile der ukrainischen Bevölkerung einem solchen „Deal“ nach den Massakern, den Zerstörungen und in der Furcht vor Deportationen kaum zustimmen wollen?
Die Unterzeichnenden des ersten offenen Briefs sorgen sich um die „berechtigte[n] Sicherheitsinteressen Russlands und seine[r] Nachbarstaaten“. Damit schließen einige der Unterzeichnenden nahtlos an frühere Stellungnahmen an, in denen sie deren Respektierung bereits gefordert hatten.[8] Den Sicherheitsinteressen der ukrainischen Bevölkerung schenkten sie bislang hingegen keine Beachtung. Schließlich stellt Russland die Souveränität der Ukraine in Frage, nicht umgekehrt. Warum genießt die NATO-Mitgliedschaft in zahlreichen Ländern Osteuropas einen Rückhalt in der Bevölkerung? Wohl weil viele Menschen ihre leidvollen Erfahrungen mit dem russischen Sicherheits- und Militärapparat gemacht haben und weil sie über ein historisches Gedächtnis der verschiedenen russischen und sowjetischen Militärinterventionen verfügen. Seit wann sind für Demokrat:innen und Sozialist:innen die Sicherheitsinteressen von Diktaturen ein vordringliches Anliegen? Marxistische und sozialistische Autor:innen aus Russland fürchten sogar, dass sich das Putin-Regime auf den Weg zu einem neuen Faschismus begeben habe.
Die Initiant:innen des ersten offenen Brief wollen, dass die am meisten gefährdeten Städte wie Kiew, Charkiv und Odessa zu „unverteidigten Städten“ erklärt werden. Das könne ihre Verwüstung verhindern. Das heißt konkret: die russischen Truppen dürfen einmarschieren und ihre Militärdiktatur errichten. Potentielle Oppositionelle können herausgefiltert, in Lager gesteckt oder deportiert werden. Das geschieht schon jetzt, und zwar auch in Städten, die sich nicht verteidigt haben.
Mit ihrer Ablehnung der Waffenlieferungen an die Ukraine akzeptieren die Initiant:innen der beiden offenen Briefe also letztlich eine Stärkung Russlands. Das ist politisch falsch, auch aus einer sozialistischen Perspektive. Verwerflich ist vor allem, dass die Unterzeichnenden der ukrainischen Bevölkerung keine eigene Subjektivität, kein eigenes Handlungsvermögen und schließlich auch nicht das Recht auf Widerstand zugestehen. Der erste offene Brief erwähnt an keiner einzigen Stelle die Anliegen und den Verteidigungswillen der ukrainischen Bevölkerung. Der zweite offene Brief argumentiert sogar, dass dieser Widerstand illegitim werde, wenn er die „Grenzen in anderen Geboten der politischen Ethik“ überschreite. Denn „das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung“ lasse selbst den berechtigten Widerstand gegen einen Aggressor irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis stehen. Diese Überlegung kann zwar grundsätzlich angestellt werden, aber in einer völlig anderen Weise. Denn schließlich stellt sich die Frage, wie der geschundenen Bevölkerung und ihrem Widerstand auf andere Weise solidarischen Beistand geleistet werden kann. Diesem Imperativ der Solidarität stellen sich aber beide offenen Briefe nicht.
Ihre Autor:innen verschweigen, dass sich Organisationen der Zivilgesellschaft wie Gewerkschaften und Nachbarschaftskomitees aktiv an der Verteidigung beteiligen, bewaffnet und unbewaffnet. Somit läuft ihre Position letztlich auf eine Tolerierung des russischen Imperialismus hinaus. Einige der Unterzeichnenden bleiben der Linie treu, die sie bereits vor dem Krieg äußerten. Damit stellen sie sich jedoch auch aktiv gegen die emanzipatorischen und linken Kräfte in der Ukraine, in Russland und in anderen Ländern Osteuropas.
Ungleiche Integration in das kapitalistische Weltsystem
Die Nato- und die EU-Länder tragen eine Verantwortung für die Zuspitzung der Krise, aber anders als Teile der Friedensbewegung behaupten. Die relevante Ostausdehnung der Nato fand bereits bis 2004 statt, kann also nicht zur Begründung des gegenwärtigen Krieges herbeigezogen werden. Es stand auch nicht auf der Tagesordnung, dass die Ukraine der Nato kurzfristig beitreten werde. Die EU unterbreitete bislang der Ukraine nicht einmal ein angemessenes Angebot zum Beitritt. Das Problem ist grundsätzlicher.
Nach dem Kollaps der bürokratischen Diktaturen in der Folge des Falls der Mauer waren die kapitalistischen Länder nicht willens, die Länder Osteuropas und vor allem Russland in einer gleichberechtigten Weise in das kapitalistische System zu integrieren. Im Gegenteil, sie verschärften die ungleiche Entwicklung in und zwischen den Ländern und die soziale Ungleichheit zwischen den Klassen. Sie beförderten in Russland die Entstehung einer Ökonomie, die sich primär auf die Extraktion von Rohstoffen stützt. Putins Aufstieg nach den chaotischen 1990er Jahren kam auch dem Kapital entgegen, das einen effizienten und notfalls hart durchgreifenden Gendarmen gegen soziale Unruhe brauchte. Der Aufstieg des Putin-Regimes lag durchaus im Interesse des „Westens“, nicht zuletzt der deutschen Wirtschaft. Unter geordneten, obgleich autoritären Verhältnissen konnte man besser langfristige Geschäfte eingehen. Diese über die Zeit sich stabilisierenden wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen dem deutschen und russischen Kapital sind auch einer der Gründe, warum etliche deutsche Konzerne und die Regierung sich ausgesprochen zurückhaltend und zunächst widerwillig auf die von anderen Ländern vorangetriebene Sanktionspolitik gegen Russland einließen. Solange man nicht weiß, wer den Krieg gewinnt, will man sich schließlich die Chance auf eine Wiederaufnahme lukrativer Geschäftstätigkeit in Russland nicht verbauen. Das erklärt auch teilweise, warum die deutsche Regierung in der Frage der Waffenlieferung vorsichtig agiert. Insofern begehen jene Teile der Friedensbewegung, die sich hart gegen den ukrainische Widerstand stellen, sogar einen Schulterschluss mit Teilen der deutschen Wirtschaft, die die freundschaftlichen Bande mit ihren russischen Partner:innen gerne profitabel weiterhin pflegen möchte.
Mehrere Konfliktlinien
Dieser Krieg weist mehrere Konfliktlinien auf. In erster Linie handelt es sich um den Angriff einer imperialistischen Macht gegen die Unabhängigkeit eines wesentlich schwächeren Landes. Die Ukraine war historisch lange Zeit eine Art Kolonie des russischen Reiches. Das Land erlangte erst 1918 in der Folge der russischen Revolution die nationale Unabhängigkeit und schloss sich 1922 als Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken an. Die stalinistische Konterrevolution beendete die Autonomie. Die politisch provozierte Hungernot in den frühen 1930er Jahren ließ das Land ausbluten. Erst 1991 entstand der gegenwärtige Staat Ukraine. Das Putin-Regime zweifelt die Legitimität dieses Staates und die Existenz einer ukrainischen Nation spätestens seit 2014 wiederholt an.
Der Krieg findet im Kontext der zugespitzten inter-imperialistischen Rivalität zwischen den USA und ihren europäischen Verbündeten, Russland und China statt. Seit den Anfangserfolgen der ukrainischen Verteidigungsbemühungen sehen die USA und ihre Verbündeten die Chance, den russischen Rivalen empfindlich zu schwächen. Je länger der Krieg dauert und je größer der militärische und damit auch politische Einfluss der Waffenlieferungen wird, desto stärker bestimmt diese inter-imperialistische Rivalität die Dynamik des Kriegsgeschehens.
Sowohl der Eskalation des Krieges als auch seiner Dynamik zu einem langen Abnützungskrieg und dem damit einhergehenden menschlichen Leid und der Zerstörung gesellschaftlichen Lebens ist mit einer solidarischen internationalistischen Perspektive entgegenzuwirken. Die Kräfteverhältnisse lassen es derzeit nicht zu, dass sozialistische Bewegungen das Kriegsgeschehen beeinflussen. Die Solidarität darf nicht Regierungen und Staaten gelten, sondern muss sich mit den Menschen in der Ukraine verbinden, die sich der russischen Besatzung und der Selenskyi-Regierung mit ihren unsozialen und undemokratischen Bestrebungen entgegenstellen. Sie muss auch die Menschen in Russland einbeziehen, die trotz brutaler Repression Widerstand gegen die Kriegsmaschinerie des Putin-Regimes leisten. Es obliegt den Menschen in der Ukraine darüber zu bestimmen, wie sie ihr Land wiederaufbauen wollen. Dieser demokratische Grundsatz geht verloren, wenn man nur durch eine enge geopolitische Brille von außen aus den reichen westeuropäischen Ländern auf den Krieg blickt und Empfehlungen zur Kapitulation vor einer imperialistischen Atommacht abgibt. Je stärker emanzipatorische und sozialistische Kräfte sind, desto eher können sie in die Auseinandersetzungen um die Beendigung des Krieges und die Gestaltung einer Nachkriegsordnung eingreifen. Internationale Solidarität heißt, den Dialog mit Gewerkschaften und den Initiativen aus der Zivilgesellschaft aufnehmen. Nur auf dieser Grundlage lassen sich gemeinsame Antworten gegen den russischen Besatzungskrieg und die imperialistischen Manöver der NATO- und EU-Länder entwickeln.
Solidarische Antikriegsbewegung
Warum fragen die Initiant:innen dieser offenen Briefe und große Teile des linken Spektrums in Deutschland und Westeuropa eigentlich nicht, warum alle Gewerkschaften, feministische Zusammenhänge, LGBTQ-Initiativen, Umweltgruppen sowie Sozialist:innen und Anarchist:innen in der Ukraine sich nahezu unterschiedslos am zivilen und militärischen Widerstand gegen die russischen Invasions- und Besatzungstruppen beteiligen? Naheliegend wäre es doch sich mit diesen Menschen zu verbinden. Doch viele Linke in Deutschland beachten diesen Wiederstand nicht einmal, sondern raten der Ukraine überheblich und abstrakt zu einem zivilen Widerstand, was in der gegenwärtigen Situation einer Kapitulation gleichkäme.
Eine solidarische Antikriegsbewegung behindert nicht den ukrainischen Widerstand gegen die russische Besatzungsarmee, sondern stellt sich auf die Seite der Gewerkschaften und Nachbarschafts- und Selbsthilfestrukturen in der Ukraine sowie der hart unterdrückten Antikriegsbewegung in Russland. Solidarität mit dem Widerstand von unten gegen die äußeren und inneren Kräfte der Herrschaft; das muss die Orientierung einer lebendigen Antikriegsbewegung werden.
Der Erlass der Schulden der Ukraine ist in diesem Zusammenhang ein zentrales Anliegen. Die Bürde der permanenten Schulden und Zinszahlungen verunmöglicht jede vernünftige Entwicklung nach dem Krieg. Mit der Forderung nach einem Schuldenerlass würde sich die Antikriegsbewegung auch den Finanzunternehmen in Europa und Nordamerika entgegenstellen.
Eine solidarische Antikriegsbewegung muss sich selbstverständlich kompromisslos der Aufrüstung der NATO-Staaten entgegenstellen, ja sogar die Existenz der NATO ist in Frage zu stellen. Die Antikriegsbewegung und die Klimabewegung müssen zusammenkommen und eine gemeinsame Grundlage erarbeiten. Der Bezug von russischem Erdgas und Öl ist einzustellen, ohne diese durch andere fossile Bezugsquellen zu ersetzen. Diese Forderung der Klimabewegung ist richtig und verdient breite Unterstützung.
Dieser Schritt zur Abkehr von den fossilen Energieträgern ist auch klimapolitisch nötig. Die Klima- und die Antikriegsbewegung müssen sich – nicht zuletzt zum Schutz des Klimas – dafür einsetzen, dass alle Länder und ganz besonders die NATO Länder ihre Rüstungsausgaben jährlich um 10% kürzen und schließlich die Rüstungsindustrie zurückbauen und in gesellschaftlich nützliche Produktion umwandeln.
Die beiden hier kritisierten offenen Briefe widersprechen grundlegenden demokratischen und solidarischen Prinzipien. Sie sind einerseits Ausdruck eines berechtigten breit abgestützten pazifistischen Empfindens in der Bevölkerung, doch zugleich argumentieren sie aus der engen Sicht eines reichen und privilegierten Landes in Westeuropa. Die abstrakte und breite Angst vor einem Atomkrieg bringt die Initiant:innen dieser Briefe dazu , einen Angriffskrieg, Besatzung, Vertreibungen, Deportationen und systematische Repression zu tolerieren und dem Widerstand die Kapitulation zu empfehlen. Das ist weit weg von internationaler Solidarität. Das läuft darauf hinaus, dass man einen imperialistischen Besatzungskrieg solange akzeptiert, als er regional begrenzt ist und Deutschland nicht erfasst. Dass sozialistische, feministische und linke Organisationen sich dieser bis weit in die eigenen Kreise hineinragenden egopazifistischen Stimmung nicht entgegenstellen, sondern sie sogar beträchtlich mittragen, ist Ausdruck der Erosion internationalistischen Denkens. Ein solches würde sich nicht an den diplomatischen Winkelzügen der Regierungen, sondern an den Anliegen der Bedrohten, Vertriebenen und Ausgebeuteten orientieren. Der Aufbau praktischer transnationaler Solidarität der Lohnabhängigen und aller Diskriminierten gegen die Herrschenden – egal in welchem Staat – ist dringender denn je.