Manifest gegen Solidarität: Wie DIE LINKE die Entstehung einer Querfront begünstigt

Die Armeen Putins starten gerade eine weitere Großoffensive, bombardieren Städte und beschießen Siedlungen mit thermobarischen Raketen. Möglicherweise beginnt eine weitere Mobilisierungswelle. Die Sprecher des Regimes bekräftigen einmal mehr das Ziel: Kapitulation und Entmilitarisierung der Ukraine, Aufgabe weiter Teile des Landes und „regime change“. In diesem Moment meinen Deutsche - auch "Linke" -, der ukrainische Widerstand eskaliere den Krieg.

Das von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer initiierte „Manifest für Frieden“ [1] kommt einer Einladung an die Putin-Diktatur gleich, den Krieg gegen die ukrainische Bevölkerung weiterzuführen. Es ist ein Kriegsmanifest. Die Initiant:innen des Manifest schreiben: „Die von Russland brutal überfallene ukrainische Bevölkerung braucht unsere Solidarität.“ Dann fragen sie: „Aber was wäre jetzt solidarisch?“ Sie geben die Antwort: keine Unterstützung für den Widerstand gegen die Besatzungstruppen.

Das Manifest knüpft an der in der deutschen Bevölkerung historisch gut begründeten und verbreiteten pazifistischen Grundhaltung an. Doch es wendet diese in eine Richtung, die auf eine Unterstützung der Putin-Diktatur hinausläuft.

Das Manifest fordert nicht etwa den Rückzug der russischen Besatzungstruppen, es benennt nicht einmal die Verantwortung der Putin-Diktatur für den Krieg. Es beschuldigt vielmehr die ukrainische Regierung den Krieg zu eskalieren. Die Ukraine wolle „Kampfjets, Langstreckenraketen und Kriegsschiffe – um Russland auf ganzer Linie zu besiegen?“ Das Stilmittel Fragezeichen macht die Aussage nicht weniger perfide. Die Autorinnen suggerieren, dass die ukrainische Führung einen Angriff auf Russland vorbereite. Das ist eine infame Verdrehung der Tatsachen. Russische Truppen halten große Teil der Ukraine besetzt, haben ein brutales Besatzungsregime errichtet, terrorisieren die ganze Bevölkerung mit Raketen- und Drohnen. Sie haben bereits Millionen von Menschen vertrieben und Hundertausende Menschen auf dem Schlachtfeld oder in Wohnblöcken getötet oder auf die Schlachtbank geführt. Dagegen wehrt sich die ukrainische Bevölkerung seit einem Jahr zur Überraschung Putins und der „westlichen Regierungen“ mit enormer Hartnäckigkeit.

„Die Ukraine kann zwar – unterstützt durch den Westen – einzelne Schlachten gewinnen. Aber sie kann gegen die größte Atommacht der Welt keinen Krieg gewinnen.“ Woher haben die Autor:innen des Manifests diese koloniale Gewissheit? Die antikoloniale Bewegung Algeriens hat die Atommacht Frankreich zum Rückzug gezwungen. Die kämpfenden Vietnames:innen haben – übrigens mit massiven sowjetischen und chinesischen Waffenlieferungen und vielen Militärberatern– die Atommacht USA besiegt. In Afghanistan haben die Mujahedin der UdSSR eine Niederlage beigebracht und die Taliban haben die US-Truppen so lange zermürbt, bis sie gingen. Warum sollen ausgerechnet die Herrschenden im Kreml nicht auch irgendwann zur Einschätzung kommen, dass ein Rückzug ihrer Machterhaltung eher dienlich ist, als einen Zerfall des imperialistischen Kolonialreiches zu riskieren?

Das Manifest postuliert, „verhandeln heißt, Kompromisse machen, auf beiden Seiten.“ Das ist die offene Einladung an die Putin-Diktatur Teile der Ukraine zu besetzen. Deutsche Pseudopazifist:innen wollen die Ukraine nötigen, einen Teil ihrer Bevölkerung – viele Millionen Menschen – an eine militärische Besatzungsdiktatur abzutreten. Putin soll also für seinen Besatzungskrieg und Alltagsterror belohnt werden. Das ist nichts anderes als koloniale Überheblichkeit. Das „Manifest für Frieden“ lädt Putin dazu ein seinen Krieg gegen die Menschen in der Ukraine fortzusetzen. Der Aufruf verurteilt die Gegenwehr gegen die Besatzung und Bombenterror. Nichts wird Putin daran hindern seinen Krieg fortzusetzen, außer starker Widerstand!

In diesem Sinne kommen die Autorinnen des Manifests zur Schlussfolgerung, es gelte „Schaden vom deutschen Volk“ abzuwenden. Das ist der Kern ihres Anliegens. Es geht um das vermeintliche Wohle eines vermeintlich deutschen Volkes, und zwar auf Kosten der Menschen in der Ukraine und in vielen weiteren Ländern, ganz besonders Syrien und Iran. Sie alle sind militärischen Angriffen von Putin und seinen Partner-Regimes ausgesetzt und sind in ihrer Existenz bedroht.

Wagenknecht, Schwarzer, Gauweiler & Co. haben ihr koloniales und überhebliches „Manifest für Frieden“ bewusst so verfasst, dass es besorgte Menschen, Pazifist:innen und "Linke" anspricht und zugleich Nationalkonservative, Faschist:innen und Nazis zur Unterschrift einlädt. Dabei geht es nicht um einzelne fragwürdige Formulierungen, sondern um den Kern des Manifest, der für Rechte zugänglich ist.

Das Manöver ist offensichtlich und leider erfolgreich. Tino Chrupalla, Bundessprecher der AFD, und Jürgen Elsässer, Herausgeber und Chefredaktor der reaktionären deutschnationalen und russlandfreundlichen Zeitschrift Compact frohlocken. Sie rufen ebenfalls zur Unterzeichnung des Manifests auf. Elsässer freut sich, dass Wagenknecht endlich auf die Straße geht und hofft, dass die „Friedensdemonstration“ am 25. Februar riesig wird.

An dieser Demonstration gegen die bewaffnete Unterstützung des ukrainischen Widerstand, die einer Entsolidarisierung gegenüber der ukrainischen Bevölkerung gleichkommt, um „Schaden vom deutschen Volk“ abzuwenden, werden möglicherweise Friedensbewegte, Mitglieder der LINKEN zusammen mit Anhänger:innen der AfD, Nazis und Faschist:innen demonstrieren. Welch ein politisches Desaster!

Die Partei DIE LINKE trägt eine Mitverantwortung für diese selbstmörderische Konstellation, nicht weil sie diese angestrebt hat, sondern weil sie nicht willens ist, angemessene Antworten zu entwickeln. Das gilt übrigens auch für die Auseinandersetzungen um die Pandemiebekämpfung und die hohen Energiepreise, bei denen sie der Versuchung unterlegen ist, oberflächliche scheinbar populistische Antworten zu geben.

Der Parteivorstand von DIE LINKE publizierte am 17. Dezember [2] und 14. Januar [3] Stellungnahmen, die dazu beitragen, Wagenknecht, Schwarzer und Gauweiler mit ihrem „Volksfrontprojekt“ den Boden zu bereiten. Er übermittelt der ukrainischen Bevölkerung seine verbalen Solidaritätsbekundungen und will sie zugleich daran hindern, sich mit wirksamen Waffen gegen die Besatzungsarmee zu schützen. Zugleich verlangt Die LINKE, dass Russland Garantien auf ein Ende der Sanktionen erhalten soll. Friedensverhandlungen seien an „Sicherheitsgarantien“ für Russland durch die NATO gebunden. Bemerkenswerterweise fordert der Parteivorstand aber nicht, dass die Ukraine Sicherheitsgarantien erhalten soll. Das ist inkonsistent und unglaubwürdig, aber im Kern anschlussfähig für Sozial- und Nationalkonservative und Rechtsextreme.

Mitte Januar lancierten unterschiedliche Strömungen innerhalb der LINKEN die beiden Aufrufe „Linke gegen Krieg und Kriegsbeteiligung“ [4] und „Stoppt den Krieg!“ [5]. Beiden Aufrufen ist gemein, dass sie die Menschen, namentlich die Gewerkschaften und progressiven Initiativen, in der Ukraine als Akteure schlicht negieren. Beide machen die NATO für eine Eskalation verantwortlich und interpretieren den Krieg als Ausdruck der Blockkonfrontation.

Während Wagenknecht und ihre Partner:innen einigermaßen konsistent argumentieren, ja, sie benennen sogar den Präsidenten der Ukraine als eigenständigen kriegstreiberischen Akteur, sind die Stellungnahmen des Parteivorstandes und die genannten Aufrufe derart inkonsistent, dass sie unglaubwürdig sind (meine Kritik am Aufruf „Stoppt den Krieg!“ findet sich in der Wochenzeitung Jungle World vom 2. Februar 2023 [6].

Neben dem Desaster des Krieges ist das alles eine politische Tragödie. Die Linke in Deutschland zerstört sich und macht sich überflüssig. Das hat Konsequenzen für die Linke in ganz Europa.

Die große Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung ist zur Überzeugung gelangt, dass sie Errungenschaften wie nationale Selbstbestimmung, demokratische, soziale und kulturelle Rechte – so unvollständig diese auch sind – in einer unabhängigen und obgleich korrupten Ukraine besser verteidigen können als unter einer russischen Besatzungsmacht. Für die meisten Menschen in Europa ist das nachvollziehbar und unterstützenswert, warum aber nicht für beträchtliche Teile der deutschen Linken? Welches Erbe behindert da die Lernfähigkeit?

Es geht darum, eine transnationale Bewegung für Solidarität mit allen Bevölkerungen aufzubauen, die sich gegen imperialistische Aggressionen und militärische Zerstörung zur Wehr setzen, auch wenn ihnen nichts anderes übrigbleibt, als Unterstützung von anderen imperialistischen Mächten einzufordern. Im Falle der Ukraine beinhaltet das Waffenlieferungen an den Widerstand gegen die Besatzungstruppen zu unterstützen, auch wenn diese Waffen von anderen imperialistischen Mächten kommen, auch wenn diese Waffen eine bürgerliche Armee erhält. Unabhängig von Stärke der ukrainischen Arbeiter:innenbewegung ist der Kampf der Menschen in der Ukraine gegen die Besatzungsmacht und für Selbstbestimmung vollständig berechtigt und verdient alle nötige - auch bewaffnete - Unterstützung.

Ich schreibe diese Kritik, nicht weil ich Salz in die Wunden der LINKEN streuen will, sondern weil die LINKE nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa eine solidarische Verantwortung wahrzunehmen hat.

Zitierte Texte

[1] https://www.change.org/p/manifest-für-frieden

[2] https://www.die-linke.de/partei/parteidemokratie/parteivorstand/parteivorstand-2022-2024/detail-beschluesse-pv/fuer-eine-verhandlungsperspektive-schritte-zur-deeskalation-im-ukraine-krieg/

[3] https://www.die-linke.de/partei/parteidemokratie/parteivorstand/parteivorstand-2022-2024/detail-beschluesse-pv/stoppt-den-krieg-keine-leopard-2-panzer-in-die-ukraine/

[4] https://linke-gegen-kriegsbeteiligung.de/

[5] https://stoppt-die-eskalation.de/aufruftext/

[6] https://jungle.world/artikel/2023/05/solidaritaet-statt-geopolitik