João Woyzeck (BFS Zürich)
Eine historisch-materialistische Perspektive richtet Politik immer nach dem historisch Möglichen aus. Revolutionsschwärmerisches Umstürzlertum mag sich zwar nobel anhören, geht in der Ukraine aber gerade an der Realität vorbei. Realistisch ist hingegen, dass eine unabhängige Klassenposition durch die ukrainische Lohnabhängigenklasse ohne die Unterstützung des bewaffneten Widerstands in der Ukraine durch den Westen bald einmal nicht mehr möglich wäre.
Dass ich als Marxist für die Bewaffnung des ukrainischen Widerstands durch NATO-Mitgliedstaaten einstehe, wird mir von anderen revolutionären Linken immer wieder zum Vorwurf gemacht. Im Zentrum der Vorwurfs steht ein Gegensatz, der zwischen der Unterstützung der Waffenlieferungen durch den Westen und einer behaupteten unabhängigen Klassenposition konstruiert wird:
Linke Kritiker:innen fordern entweder von den ukrainischen und russischen Soldat:innen, ihre Waffen niederzulegen und den Krieg zu beenden, oder, den wirklichen Feind in der Spitze der kapitalistischen Regierung des jeweils eigenen Staates zu sehen, d.h. diesen inneren Feind zu bekämpfen. Diese vermeintliche unabhängige Klassenposition speist sich dabei mehr aus Binsenweisheiten denn aus den tatsächlichen historisch-materiellen Gegebenheiten.
Die gesellschaftlichen Bedingungen in der Ukraine
Dass es bisher noch zu keinem Ende des Krieges gekommen ist, liegt nicht einfach daran, dass sich die Lohnabhängigenklassen der Ukraine und Russlands noch immer nicht gegen ihre eigenen Herrschenden gewendet haben oder ihre Waffen noch immer nicht niedergelegt haben. Wäre dies so einfach, wäre dies wahrscheinlich schon längst passiert.
Dass der Krieg unterdessen immer noch weitergeht, zeigt, wie realitätsfern die Forderung nach einem Kampf den eigenen Herrschenden gegenwärtig ist. Denn die meisten ukrainischen und russischen Arbeiter:innen (wie im Rest Europas) bilden ihr Selbstverständnis nicht aus ihrer Klassenlage heraus und organisieren sich dem entsprechend in politischer Hinsicht mehrheitlich auch nicht als Lohnabhängige. Dies hat tief in den ukrainischen und russischen Gesellschaftsgefügen verwurzelte Ursachen, die auch der Krieg nicht einfach verschwinden lässt. Ganz gleich, wie sehr diese oder jene linke Gruppe noch dazu aufrufen mag.
Im Falle Russlands bspw. hat das Regime Putin seit gut zwanzig Jahren dafür gesorgt, dass die breite russische Bevölkerung mit der propagandistischen Verbreitung der erwünschten Deutungsschemata und dem Abstecken der Grenzen des öffentlich Denkbaren durch gewaltsame Repression systematisch in eine politische Passivität getrieben wurde. Das Regime wird weiterhin Soldat:innen aus dem infrastrukturell unterausgestatteten und ökonomisch verarmten russischen Osten in der Ukraine verheizen.
Auch die Aufforderung zum Niederlegen der Waffen, oder sogar die aktive Sabotage von Waffenlieferungen an den ukrainischen Widerstand, ist verfehlt. Dahinter verbirgt sich letztlich die Vorstellung, dass das Regime Putin und die Regierung um Selenskyj nationale Ableger ein- und derselben Ausbeuterklasse seien und Politik nichts weiter sei als der verlängerte Schatten der ökonomischen Verhältnisse. Diese Erklärung ist jedoch viel zu eindimensional. Tatsächlich besitzen die politischen und geopolitischen Interessen der jeweiligen Staaten durchaus eine gewisse Eigenständigkeit. In geopolitischer Hinsicht verfolgt das Regime Putin nämlich exakt das, was die Ukraine genau nicht will: die Besatzung der Ukraine! Allein schon deswegen kann die ukrainische Lohnabhängigenklasse gar nicht ohne Weiteres ihre Waffen niederlegen. Die Expansionspolitik Russlands muss als eigenständiger Faktor ernstgenommen werden.
Die Ukraine ist einer der ärmsten Staaten Europas[1], weswegen eigentlich nicht nur der Widerstand gegen den russischen Einmarsch notwendig ist, sondern auch soziale Kämpfe im Inneren. Dass Waffen von Arbeiter:innenorganisation an selbstorganisierte emanzipatorische Projekte und Arbeiter:innenorganisationen in der Ukraine geliefert würden, wäre nur schon deshalb wünschenswert. Dies wird allerdings nicht in signifikantem Ausmass passieren, da die dazu nötigen Strukturen sowohl innerhalb wie ausserhalb der Ukraine schlicht nicht bedeutend und gross genug sind. Die europäischen Rüstungsfirmen sind eben nicht in der Hand der entsprechenden Industriearbeiter:innen. Die selbstorganisierten revolutionär-linken Organisationen sind auch nicht gross genug, um den Widerstand gegen die russische Invasion ohne den bürgerlichen Staat zu schultern.
Kurzgesagt, die vermeintlich proletarische Klassenposition, die der Unterstützung des ukrainischen Widerstands mit Waffen aus NATO-Mitgliedstaaten entgegengestellt wird, ist ein abstraktes Konstrukt im geschichtsfreien Raum. Gegenwärtig ist es weder möglich, dass der ukrainische Widerstand die Waffen niederlegt, noch, dass er sie gegen seine eigenen Herrscher:innen richtet. Hingegen ist eine unabhängige Klassenposition durchaus möglich, wenn auch nur innerhalb der ungünstigen Einschränkungen der gesellschaftlichen Bedingungen, wie sie der russische Angriffskrieg und der historische Entwicklungsstand von Bewusstsein und Organisation der europäischen Lohnabhängigenklassen zulassen.
Den ukrainischen Widerstand nun aufgrund der Lieferung von Waffen durch NATO-Mitgliedstaaten nicht zu unterstützen oder gar durch Streiks Lieferstopps zu erwirken, wird einzig dazu führen, dass die Ukraine, in Teilen oder ganz, innert Wochen von der russischen Armee eingenommen würde. Man mag hinter dieser Strategie eine Position wittern, die in einer gewissen Abhängigkeit zu bürgerlichen Klasseninteressen steht, weil sie einen Widerstand unterstützt, der nicht zu einem Wechsel der Produktionsverhältnisse führt. Man muss sich aber fragen, wie die Ukraine nach einem unterlassenen bewaffneten Widerstand, ohne die Waffen aus dem Westen und ohne die Kooperation mit der bürgerlichen Regierung um Selenskyj, aussähe? Wie sähe das Leben unter einer Marionettenregierung aus, die von einem chauvinistischen und aspektweise[2] imperialistischen Land wie Russland gesteuert wird? Man stelle sich so ein Puppenregime genau vor, das der Ukraine (sowohl den russisch- wie ukrainischsprachigen Leuten) eine eigene nationale Identität abspricht (sie etwa als bolschewistische Erfindung; also als von aussen künstlich geschaffen und nicht kulturhistorisch gewachsen abtut[3]) und höchstwahrscheinlich die politisch nicht-konformen Ukrainer:innen verfolgen liesse.
Selbst für zwingend notwendige Friedensverhandlungen gilt, dass ein erfolgreicher Verteidigungskampf, d.h. die Zerstreuung der Vorstellung, man könne mit der Ukraine machen, was man will, die eigene Position in Verhandlungen stärkt. Als absolut unterlegene Nation bliebe der Ukraine lediglich noch zu hoffen, die Internationale Gemeinschaft interveniert, wenn der diktierte Frieden zu offensichtlich nach Unterdrückung riecht.
Die Sache mit dem interimperialistischen Krieg
Die Rechtmässigkeit einer aktiven Unterstützung des bewaffneten Widerstands der ukrainischen Bevölkerung steht in engem Zusammenhang damit, ob sich in der Ukraine imperialistische Blöcke in DIREKTER Konfrontation gegenüberstehen oder nicht. Anders ausgedrückt, geht es um die Befürchtung, man würde einem der beiden imperialistischen Blöcke, Russland oder der NATO, Auftrieb verschaffen.
Eine interimperialistische Dimension ist da, erklärt aber die Invasion der Ukraine nicht hinreichend
Es ist unleugbar, dass Russland auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion einen Annexionismus betreibt (bspw. Georgien, Tschetschenien) und Autokraten gegen selbstorganisierte demokratische Oppositionen unterstützt (Lukaschenko in Belarus[4]; Tokajew in Kasachstan[5]). Das Netz, das das russische Regime spinnt, reicht dabei weit über die ehemaligen Sowjetgebiete hinaus. Auch in Syrien beging Putins Regime Verbrechen gegen die Menschlichkeit.[6] So wurde Aleppo mit Streubomben und Chemiewaffen förmlich dem Erdboden gleichgemacht, um den Diktator Bashar Al-Assad an der Macht zu halten.[7] Die Kreml-nahe Söldnergruppe «Wagner» wurde in den Sudan entsandt, um den Militärputsch von General Abdel Fattah al-Burhan zu unterstützen.[8] Hinzukommen die Destabilisierung westeuropäischer Staaten durch die Unterstützung rechts-nationaler und rechtsextremer Organisationen[9], und die russische Einflussnahme auf die US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2016 in Form von Hackerangriffen auf die Kommunikationsstruktur und das digitale Wahlsystem, sowie durch die Streuung von Falschmeldungen auf den Sozialen Medien, wohinter letztendlich das leitende Zentralorgan des russischen Militärnachrichtendienstes (GRU) stand[10]. Zu guter Letzt darf auch der Einfluss russischer Propaganda in Kreml-freundlichen Medien wie Sputnik oder Russia Today in lateinamerikanischen Staaten – auch in solchen, die selbst keine autoritäre Kontrolle der Medienlandschaft führen – nicht unerwähnt bleiben[11]. Dies alles ist schliesslich nichts anderes als das Streben nach Weltherrschertum. Der Eroberungsfeldzug gegen die Ukraine reiht sich somit nahtlos in die imperialistische Linie Russlands ein.
Auf der anderen Seite muss ebenso offen ausgesprochen werden, dass Russland genuine Sicherheitsbedenken an seiner Westgrenze hatte aufgrund der fünf NATO-Osterweiterungen zwischen 1999 und 2000 sowie der Aussicht, dass die Ukraine enger mit der NATO assoziiert werden würde (die Ukraine selbst hat das Ziel der NATO-Mitgliedschaft 2019 in der eigenen Verfassung verankert; 2021 befand sich die Ukraine im Enhanced Opportunities Program, was als Vorstufe zu einem Aktionsplan für die Mitgliedschaft verstanden werden kann; im Zuge des russischen Angriffskrieges aber gab die Ukraine das NATO-Mitgliedschaftsziel zugunsten eines blockfreien Status auf).
Vor allem aber waren die ursprünglichen NATO-Mitgliedstaaten nach dem Kollaps der Sowjetunion nicht ernsthaft daran interessiert, der in den Trümmern der ehemaligen Sowjetunion übriggebliebenen Russischen Föderation wieder auf die Beine zu helfen und sie als vollwertiges Mitglied in die europäische Gemeinschaft zu integrieren. Das Ziel war nicht die Einbindung eines neuen kapitalistischen Partners, sondern die Ausbootung eines geopolitischen Konkurrenten. Diese interimperialistischen Spannungen existieren, zweifelsohne.
Wer sich aber mit dieser Bestandsaufnahme begnügt und den Angriffskrieg gegen die Ukraine darin bereits erklärt sieht, greift die wirkliche Situation nicht annähernd. Denn so wird eine gewichtige, die zentrale Dimension des Konfliktes unterschlagen: die militärische, gewalttätige Intervention in Ost- und Ostmitteleuropa, die tatsächlich Leben kostet, ging einseitig vom russischen Regime aus. Auf dem Territorium der Ukraine dehnt sich gerade nur ein einziger Hegemon annektionistisch und militärisch aus: Russland.
Angegriffen wird die Ukraine, nicht etwa ein Stellvertreter der USA
Zudem sind die Menschen und gesellschaftlichen Gruppen in Ostmittel- und Osteuropa nicht monolithisch. Und noch weniger sind die besagten sozialen Gefüge deckungsgleich mit den beiden Blöcken Ost und West (die viele anscheinend auch in sich selbst als monolithisch wahrnehmen). Am allerwenigsten aber sind sie und ihre Lebenswelt blosses Niemandsland, deren subjektive Interessen man übergehen darf für die Sicherheits(- und Macht)interessen von Ost und/ oder West.
Es sind Menschen, Individuen, Persönlichkeiten; sozio-ökonomische Klassen und Unterklassen, klassenübergreifende Einkommensschichten und klassenunabhängige kulturelle soziale Gruppen, aber allesamt mit eigenen Identitäten und subjektiven Interessen, nicht einfach identitätslose Ableger von Ost oder West, oder gar einer amerikanischen Interessenspolitik.
Wie aber sind dann die subjektive Identität und Wahrnehmung der ukrainischen (und weiterer ost- und ostmitteleuropäischer) Personen/ Gruppen in Verhältnis zu den geopolitischen Interessen Westeuropas und Nordamerikas auf der einen sowie denjenigen Russlands auf der anderen Seite zu setzen?
Viele Menschen Ost- und Ostmitteleuropas leben in ständiger Angst vor der russischen Hegemonialpolitik, und das seit den Zeiten der alten Zaren.
Ohne also die Osterweiterungen der NATO, die Russland ausgeschlossen und nie paritär in eine postsowjetische Weltordnung integriert hat, klein- oder wegzureden, darf eines nicht unterschlagen werden:
Die heterogen zusammengesetzten Bevölkerungsgruppen der Ukraine wollten mit dem bis vor Kurzem noch angestrebten NATO-Beitritt nicht etwa Teil des global mächtigsten imperialistischen Blocks werden, sie wollten nicht das Territorium der Russischen Föderation in Frage stellen. Ganz im Gegenteil, sie sahen in der durch Staatenbündnisse vertraglich zugesicherten Unterstützung durch westliche Staaten eine Garantie für die Wahrung ihrer nationalen Souveränität im, wie wir jetzt erleben, durchaus realistischen Ernstfall.
Wer riskiert gerade tatsächlich den Frieden in Europa?
Darüber hinaus muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass die NATO und die EU sich gemeinhin davor scheuen, den Forderungen der ukrainischen Regierung nach der Einrichtung einer Flugverbotszone oder dem polnischen Vorschlag einer NATO-Friedensmission auf ukrainischem Territorium nachzugeben.[12] Eben weil sie dies aufgrund einer direkten Konfrontation als eskalativ einstufen. Dies heisst nicht, dass man allen Argwohn gegen die NATO fallen lassen darf. Ganz im Gegenteil! Denn so wie die Interessen der ost- und ostmitteleuropäischen Gesellschaftsgruppen nicht einfach einiggehen mit den Zielen der dominanten NATO-Mitgliedsstaaten, genauso wenig ist es andersrum Staaten wie den USA, Frankreich oder Deutschland nur an der Souveränität einer ukrainischen Republik gelegen, sondern sie verfolgen natürlich auch eigene geopolitische Interessen in fremden Hoheitsgebieten.
Auch, aber eben nicht nur: Viele west- und ostmitteleuropäische Bürger:innen erkennen ihre Rechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit, erkennen ihre Werte und freiheitlichen Lebensbedingungen im Widerstand der ukrainischen Bevölkerung allegorisch wieder. Viele ostmitteleuropäischen Bürger:innen sind im Lichte des russischen Angriffskrieges verunsichert, wie weit eine ungebremste Expansionspolitik des Regimes Putins gehen könnte.
Was bedeutet das konkret für die eigene Strategie?
Entsprechend geht es für nicht direkt betroffene, aber besorgte Organisationen um eine sinnvolle taktische und ideologische Ausrichtung, um die Priorisierung und kohärente Einordnung gewisser Umstände, Forderungen und Kämpfe in einer Gesamtstrategie und -perspektive. Der Konflikt in der Ukraine und der politische Umgang stellt sich hier als Vexierfrage. Doch nur populistische Antworten auf Krisen gestalten sich einfach. Hingegen kann nur eine Linke, die vom Standpunkt der Unterdrückten her denkt, die Welt nicht auf schematische Blocks reduziert und sich vor allem nicht scheut, auch komplexe und differenzierte Schlüsse zu ziehen, hier Orientierung finden:
Weil die NATO-Mitgliedstaaten eine direkte militärische Konfrontation gemeinhin vermeiden wollen, die russische Regierung als der Angreifer den Krieg erst vom Zaum brach und vor allem weil ganz akut sowohl das Überleben der ukrainischen Bevölkerung als eine freiheitliche und ohne kulturellen Assimilationszwang, als auch das Überleben der Ukraine als souveräner Staat auf dem Spiel steht, geht es für das Territorium der Ukraine nicht um einen interimperialistischen Zusammenstoss, sondern in erster Linie um die Abwehr eines Invasoren.
Wer die Invasion der Ukraine nicht durch die Dimension einer unprovoziert angegriffenen Bevölkerung und ihr entsprechendes Recht auf Selbstverteidigung definiert, sondern den Angriffskrieg primär als Stellvertreterkrieg zweier imperialistischer Blocks sieht, lässt auch entsprechende Taten folgen. Doch wer meint, es ginge in Wirklichkeit darum, beiden imperialistischen Seiten die Unterstützung zu versagen und daher den Ukrainer:innen : «Waffen nieder statt Krieg!», zuruft, geht just an der historischen Realität vorbei. Denn der russische Aggressor wird dies nur dann in absehbarer Zeit tun, wenn er die Ukraine widerstandslos besetzen kann. Die historische Einordnung der Invasion der Ukraine zieht somit nicht nur eine strategische, sondern auch eine ganz und gar humanistische Konsequenz nach sich. Oder anders ausgedrückt, wer der ukrainischen Bevölkerung ein prinzipielles Recht auf Selbstverteidigung zugesteht, aber nicht die Waffen, mit denen sie die NATO-Mitgliedstaaten beliefert, muss fairerweise auch so konsequent sein und eines zugeben: Sie:er nimmt schlicht in Kauf, dass der ukrainische Widerstand einer militärischen Grossmacht unterliegt, für die Kriegsverbrechen offenbar Teil der Strategie sind.
Doch was bedeutet das nun konkret für die eigene Strategie? Vielleicht muss erst der russische Angriffskrieg enden, dann die NATO fallen. Sicherlich muss jetzt der ukrainische Widerstand mit Waffen unterstützt werden, aber gleichzeitig die Entmilitarisierung der NATO-Staaten gefordert werden bzw. ihre weitere innere Militarisierung unter dem Vorwand der Invasion der Ukraine gestoppt werden.
Die interimperialistische Dimension darf selbstredend nicht vergessen gehen. Mit Beendigung des Krieges gegen die Ukraine muss global eine Abrüstung gefordert werden. Zudem ist eine globale Sicherheitspolitik, die egalitäre internationale Beziehungen ermöglicht und nicht Regionalhegemonen durch geopolitische und wirtschaftliche Verdrängung in gegnerische Blocks treibt, Teil einer antikapitalistischen internationalistischen Perspektive für die Zukunft. Visionen für eine bessere Zukunft aber schliessen tagespolitische Kämpfe mitnichten aus. Tagespolitische Kämpfe ebnen überhaupt erst den Weg dorthin: Revolution ist auf dem europäischen Kontinent allemal nicht denkbar ohne eine nicht besetzte, d.h. unabhängige und frei denkende Lohnabhängigenklasse in der Ukraine!
Wie eine solche, historisch angemessene, differenzierte und pragmatische Strategie, die tagespolitische Kämpfe und Etappen nicht übergeht, aussehen könnte, zeigte uns bspw. Trotzki 1938. Trotzki war jemand, der eine auf historisch-materialistischer Analyse basierende Position sicher nicht aufgrund moralistischer Bedenken aufgegeben hätte. Und doch liest sich Trotzkis Parabel fast als Analogie zur gegenwärtigen Ukrainekrise:
«Nehmen wir an, daß morgen in der französischen Kolonie Algerien unter dem Banner der nationalen Unabhängigkeit ein Aufstand ausbricht und daß die italienische Regierung aus ihren eigenen imperialistischen Interessen heraus Waffenlieferungen an die Rebellen vorbereitet. Welche Haltung sollten die italienischen Arbeiter in diesem Falle einnehmen? Ich habe bewußt als Beispiel einen Aufstand gegen ein demokratisches imperialistisches Land gewählt, wobei die Intervention auf seiten der Aufständischen von einem faschistischen Land ausgeht. […] Selbst wenn im faschistischen Italien zur selben Zeit ein Generalstreik der Seeleute ausbrachen sollten die Streikenden zugunsten der Schiffe, die den aufständischen Kolonialsklaven Waffen bringen, eine Ausnahme machen; andernfalls wären sie nichts weiter als erbärmliche Gewerkschaftler, keine proletarischen Revolutionäre.»[13]
Eine unabhängige Klassenposition muss erstmal klein beginnen
Die oben beschriebene historisch kontextualisierte Strategie kann eine wirkliche Veränderung erbringen, zumindest für die bedrohte ukrainische Bevölkerung. Sie rückt jedoch auch die von allen echten Linken ersehnte Soziale Revolution weiter in die Ferne. Die Soziale Revolution ist schliesslich, wonach wir alle streben, um ernsthaft eine gerechtere Gesellschaft zu erreichen. Gleichzeitig ist jedoch nichts marxistischer, als Dinge entsprechend ihres historischen Entwicklungsstands zu nehmen. Man muss daher zwischen aufständischem Umstürzlertum und wirklicher revolutionärer Strategie, die zu allererst auch breiten Zulauf in der Bevölkerung finden und längerfristig Bestand behalten können muss, unterscheiden.
Es gibt allerdings in ganz Europa, von Wladiwostok bis Lissabon, keine zur Genüge, d.h. auch nur ansatzweise zu einer quasistaatlichen Gegengesellschaft organisierte Lohnabhängigenklasse noch steht der Kapitalismus in diesem Moment vor dem Kollaps.
Marx selbst ist hier ein gutes Beispiel, denn er zeigte sich sogar noch ob der berühmten Pariser Kommune differenziert: So war sie für ihn zugleich das Modell des revolutionären Übergangsstaates zum Kommunismus als auch eine historisch verfrühte Erscheinung.
Jawohl, Marx hielt die revolutionäre Gegengesellschaft, welche die Arbeiter:innenschaft und das Kleinbürger:innentum von Paris 1871 gegen das Kabinett Trochu (erste Regierung der Dritten Französischen Republik) bildeten, für verfrüht.
Nur unter historisch einzigartigen Umständen (Flucht des Pariser Staatsapparats nach Versailles, desorganisierte und dezimierte französische Armee nach dem Deutsch-Französischen Krieg) konnte sich die Kommune überhaupt bilden und kurzfristig halten.[14] Marx und die Internationale Arbeiter:innen-Assoziation (1. Internationale) hatten denn auch zur Ausnutzung der bürgerlichen Freiheiten der bürgerlichen Troisième République geraten, um zunächst noch den Organisationsgrad der Arbeiter:innenschaft voranzutreiben.[15]
Trotz ihres strategisch verfehlten Timings besass die Kommune für Marx natürlich Modellhaftigkeit, weil er an ihr erstmals beobachten konnte, wie selbsttätige Demokratie aussehen könnte,[16] bzw. frühere Vorstellungen von Selbstorganisation durch die Arbeiter:innenschaft praktisch konkretisiert vorfand.[17]
In Anlehnung an Marx und Engels darf der schlussendlich angestrebte Bruch mit dem bürgerlichen Staat nicht davon losgelöst passieren, ob die bewusstseinsmässige Entwicklung und organisatorische Vernetzung der Lohnabhängigenklasse bereit dazu ist.
Die Ausnutzung des bürgerlichen Systems, um als Lohnabhängigenklasse voranzukommen, ist eine heikle Angelegenheit. Auch hier lohnt sich ein Blick auf die beiden Gründungsväter des wissenschaftlichen Sozialismus: Marx und Engels waren von der Kooperation des Proletariats mit dem Bürgertum in den Februar- und Märzrevolutionen 1848 nachhaltig enttäuscht worden. Das französische Bürgertum wandte sich irgendwann gegen den proletarischen Kampfgenossen und liess ihn unter dem Oberbefehl des Interim-Kriegsministers Louis-Eugène Cavaignac blutig niederschlagen. Und die Bürgertümer der deutschen Länder (es gab noch keinen Einheitsstaat, nur diverse Fürstentümer) hatten noch nicht einmal das Vermögen, eine vollendete bürgerliche Republik durchzusetzen und einigten sich aus Angst vor einer Diktatur des Pöbels auf eine konstitutionelle Monarchie, in der die Exekutive in den Händen des Adels verblieb.[18]
Marx und Engels beargwöhnten fortan das Bürgertum – richtigerweise, wie ich finde. In den Satzungen des Kommunistischen Bunds setzten daher beide den Fokus auf von der Arbeiter:innenschaft selbstorganisierte und selbst gewählte Parallelstrukturen, um sukzessive immer mehr Druck auf das Bürgertum auszuüben und schliesslich die politische Gewalt zu ergreifen. Jedoch war dies als langwieriger Prozess des schrittweisen Erstarkens vorgesehen.[19] Noch 1895 würde Engels bemängeln, wie sehr die französische Arbeiter:innenschaft 1871 zurückgeworfen worden war[20], selbst wenn ihm die Kommune idealtypisch die Zukunft wies.[21]
In eben diesem Geiste sollte man gerade als revolutionäre Linke differenziert denken und den historischen Umständen entsprechend handeln. So wie schon Marx und Engels forderten, zunächst die Freiheiten und Rechte der bürgerlichen Demokratie auszunutzen, um als Arbeiter:innenschaft zu erstarken, bevor man die bürgerliche Staatsgewalt durch seine eigene ersetzt, sollte auch die systemkritische Linke heute, vom Stand des gegenwärtig Machbaren ausgehen. Bevor die Lohnabhängigenklasse als Gegenmacht zur bürgerlichen Gesellschaft auftreten kann, wird sie sich innerhalb der bürgerlichen Gesellschaftsstrukturen als Klasse für sich organisieren müssen; dazu gehört auch die bedingte Teilnahme an Institutionen und Prozessen der bürgerlichen Gesellschaft. Vor allem aber wird sich die Lohnabhängigenklasse am Leben halten müssen, um zu einem kollektiven Bewusstsein als Klasse zu finden. Dies geht, ganz realistisch betrachtet, nur in kritischer Kooperation mit dem bürgerlichen ukrainischen Staat und ausgerüstet mit den Defensivwaffen der NATO. Von daher ist der Gegensatz zwischen einer vermeintlich unabhängigen Klassenposition und der Lieferung von Waffen durch NATO-Mitgliedstaaten künstlich und konstruiert. Die wirkliche Aufgabe wird darin liegen, als Teil des ukrainischen Gesamtwiderstandes eine eigene Position zu finden.
In dieser Hinsicht ist die Zusammenarbeit mit der antiautoritären Linke in der Ukraine und in Russland notwendig. Zum einen, da in der Ukraine kurz- bis mittelfristig überhaupt erst eine solide liberale Demokratie erkämpft werden muss, die westeuropäischen Standards genügt und umfängliche Bürgerrechte sowie rechtsstaatliche Sicherheit gewährleistet.[22] Ebenso, weil Russland 2021 im besten Fall eine gemässigte Autokratie war[23], vor der es gegenwärtig scheint, als ob sie in einen vollumfänglichen Totalitarismus abgleitet, wo auch staatlich gelenkte Räume der persönlichen oder politischen Freiheit einer chauvinistischen Staatsdoktrin weichen müssen.[24]
Zum anderen aber auch langfristig, da ein Gesellschaftssystem, das auf der Aneignung fremder Arbeit basiert, es niemals ermöglichen wird, der Lohnabhängigenklasse volle politische und wirtschaftliche Beteiligung als Entscheidungsträger:innen zu gewähren. Aber, bis aus kleinen marxistischen und anarchistischen Organisationen und Plattformen eine Gegenmacht wird, die das kapitalistische System herausfordert, wird sich die revolutionäre Linke noch einige Zeit innerhalb der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft vernetzen müssen.
Dabei ist es ist nur schon aus rein praktischen Gründen schwer vorstellbar, wie eine Puppenregierung unter der Führung des Kreml, die versuchen wird, dem Widerstand einer besetzten Bevölkerung durch Repression Herr zu werden, die Organisierung einer unabhängigen und regierungskritischen Lohnabhängigenklasse ermöglichen soll. «Bürgerliche Freiheit, Preßfreiheit, Versammlungs- und Vereinsrecht» waren schon für Engels die Voraussetzung, um zur Gegenmacht zur bürgerlichen Gesellschaft zu wachsen. «Ohne diese Freiheiten», das wusste schon Engels, könne sich die Arbeiter:innenklasse erst gar «nicht frei bewegen».[25]
Was tun?
In der Ukraine
Die Unterstützung des Widerstands der ukrainischen Gesamtbevölkerung mit all ihren diversen ideologischen Facetten und unter der Ägide eines bürgerlichen, gar noch demokratisch-defizitären, Staates darf selbstverständlich nur unter unabhängiger Kritik und mit der Perspektive zum einstigen Systembruch geschehen. Genau deswegen sind lokale antiautoritäre linke Organisationen wichtig, die bis auf Weiteres eine kritische Zusammenarbeit mit der ukrainischen Regierung pflegen, aber sich im Schatten des bürgerlichen Staates eigenständig organisieren, um dereinst einen lukrativen Versuch zum Bruch mit der kapitalistischen Gesellschaft zu wagen:
Nach dem Bertelsmann-Transformationsindex (BTI) war die Ukraine 2022 eine defekte Demokratie.[26] Der BTI zeigt zudem einen gewissen Trend in der rechtsstaatlichen Entwicklung der Ukraine an. Von 2012 bis 2022 konnte die Ukraine ihre Indexpunkte für Demokratie immerhin von 5,82 auf 6,8 steigern.[27] Dies ist ein kleiner, aber nicht irrelevanter Erfolg in Richtung der Hoffnungen, die sich die ukrainische Bevölkerung mit dem Euromaidan 2013 und 2014 gemacht hat.
Auch wenn die Regierung Selenskyj eine zentrale Rolle für das Gelingen des ukrainischen Widerstand spielt, darf aber nicht unter den Teppich gekehrt werden, dass auch diese Regierung noch immer keine lupenreine Verfechterin der ukrainischen Hoffnungen auf mehr bürgerliche Demokratie ist.
Am 20. März unterzeichnete Selenskyj ein Präsidialdekret zur Zusammenlegung der nationalen TV-Sender der Ukraine. Dies mögen sich viele damit erklären, dass Kriege eben nicht ohne Notstandsrecht funktionierten oder zu gewinnen seien. Ob aber die Meinungs- und Oppositionsfreiheit wirklich erst da aufhört, wo die Souveränität der Ukraine beginnt, wie Selenskyj nicht müde wird zu betonen,[28] bleibt mehr als fraglich. Dafür, dass die Hoffnung der Ukrainer:innen nach mehr politischer Mitbeteiligung also nicht doch noch enttäuscht wird, muss gerade auch die systemkritische Linke (auch um ihrer selbst willen) kämpfen!
An dieser Stelle sei auf die kritische Beteiligung des antiautoritär-linken Sozialnyj Ruch (Soziale Bewegung) am gesamtukrainischen Widerstand verwiesen. Obwohl selbst in den nationalen Widerstand gegen Russland involviert, steht der Sozialnyj Ruch der bürgerlichen Regierung um Selenskyj kritisch gegenüber. So prangerte der Sozialnyj Ruch an, dass der Nationale Verteidigungs- und Sicherheitsrat (staatliches Beratungsgremium des Präsidenten für die Entwicklung und Koordination des Vorgehens der Exekutive in Belangen der nationalen Sicherheit) am 20. März 2022 diverse Parteien, darunter auch (vermeintlich) linke Organisationen, aufgrund russlandfreundlicher Neigungen oder Positionen vorrübergehend verbieten liess.
Im Zentrum der Kritik des Sozialnyj Ruch steht dabei, dass die dafür nach Standards rechtsstaatlich-demokratischer Gesellschaften üblichen Untersuchungen und gerichtlichen Anordnungen ausgelassen wurden. Der Sozialnyj Ruch forderte stattdessen vollumfängliche rechtsstaatliche Garantien nach innen, auch für die Dauer des Krieges.[29]
Alona Liasheva, Co-Redakteurin der Zeitschrift Commons und Urbanistikdoktorandin mit Schwerpunkt Wohnungswesen in Osteuropa, berichtet mitunter aus persönlicher Erfahrung in der ukrainischen Stadt Lwiw, die im Zuge der Invasion der Ukraine zu einer Drehscheibe für die vielen Geflüchteten geworden war. Liasheva verweist in diesem Zusammenhang drauf, dass die Ukraine schon vor dem Krieg ein soziales Problem mit der Wohnungsfrage hatte. Mitte der 1990er wurde eine äusserst neoliberale Wohnraumpolitik eingeführt, von der vor allem die Immobilienbranche profitieren konnte, da der Wohnungsgebäudebestand beinahe in seiner Gänze privatisiert worden war. Auf der Strecke blieben natürlich sozialer Wohnungsbau und nichtgewinnorientierte Wohnangebote. Mitunter aufgrund dieser fehlenden sozialen Infrastruktur (zur Kostenregulierung und sozialen Verteilung) war es für die Regierung mit Anbruch des Krieges ungemein schwierig, die Geflüchteten angemessen aufzufangen. Schliesslich wurde diese Aufgabe in grossen Teilen der Zivilbevölkerung selbst überbürdet. Dementsprechend wurde ein grosser Teil der Versorgung von selbstorganisierten Projekten, von kleinen Lokalinitiativen übernommen. Liasheva bemerkt hierzu, dass die Zivilbevölkerung die Not zur Tugend macht, indem sie gewissermassen eine Art Quasi-Sozialstaat erfindet.[30]
Dies zeigt, dass eine gesellschaftliche Umverteilung der Last möglich ist. Insbesondere auch mit Hinblick auf den Wiederaufbau nach beendigtem Kriege: Der Wiederaufbau soll nicht eine Wiederherstellung eines neoliberalen Marktes für die verschiedenen öffentlichen Dienstleistungen wie Behausung, Ernährung, Bildung, Gesundheit etc. bedeuten, sondern die Einrichtung eines umfangreichen wohlfahrtsstaatlichen Systems der egalitären Verteilung. Die ukrainische systemkritische Linke übernimmt hier eine wichtige Rolle zur Verbreitung und Durchsetzung solcher Forderungen, um auf nationale und internationale Verantwortliche Druck auszuüben. Schliesslich ist auch das Grundrecht auf eine Lebensgestaltung, die vom Einkommensniveau unabhängig ist, für die Lohnabhängigenklasse Teil der «Luft, die sie zum Atmen nötig hat», wenn sie sich organisieren und erstarken will.[31]
In Russland
Die Ukrainekrise, der Angriffskrieg gegen die Ukraine und die wachsende Gleichschaltung und Repression unter dem russischen Regime, ist nur im Verbund mit der ukrainischen UND der russischen Zivilbevölkerung, insbesondere den beiden Lohnabhängigenklassen zu lösen.
In diesem Zusammenhang gibt es durchaus einige Nachrichten aus Russland, die optimistisch stimmen. Am 16. April 2022 berichtete RadioFreeEurope unter Berufung auf den Rechtsanwalt Pawel Chikow, Gründer der NGO für Rechtshilfe Agora, dass sich möglicherweise etwas über 1’000 Mitglieder der Nationalgarde der Einberufung in die Invasion widersetzen hätten.[32] Seit März wurden in mehreren russischen Städten, mindestens 5, Militärregistrierungs- und Rekrutierungsämter in Brand gesetzt.[33] Dies zeigt, dass die russische Bevölkerung eben nicht geschlossen hinter dem Despoten im Kreml steht, und sogar, dass einige Elemente der russischen Bevölkerung zu mutigem zivilen Ungehorsam bereit sind.
Es ist aber bei Weitem noch kein Kieler Aufstand, der sich in alle Windrichtungen ausbreitet. Man darf die positiven Nachrichten nicht überschätzen. Denn tatsächlich erstickt das russische Regime Opposition allzu gern frühzeitig im Keime. Der BTI beschrieb Russland 2022 als gemässigte Autokratie. Der Demokratieindex des Magazins The Economist stufte Russland 2021 als autoritäres Regime ein.[35]
Praktisch lässt sich das Russland vor dem Angriffskrieg gegen die Ukraine vielleicht noch am ehesten als gelenkte Demokratie bezeichnen. Das russische Regime gewährte in der Duma anderen politischen Parteien neben der Partei Einiges Russland einen Status als de facto Blockparteien. Um den Anschein eines funktionierenden Parlamentarismus zu gewähren, aber auch um andere Parteien mit gewissen Zugeständnissen an sich zu binden. Auch die Zivilbevölkerung konnte in unpolitischen Zusammenhängen eine relativ liberale Freiheit geniessen. Diese Freiheiten waren genau abgesteckt und tasteten die Macht der dominanten Kräfte um Putin nicht grundsätzlich an; in brenzligen Phasen wie bspw. während des FIFA World Cups 2018 wurden diese kontrollierten Freiräume stärker eingeschränkt.[34]
Es gibt nun Grund zur Annahme, dass Russland im Zuge des Krieges gegen die Ukraine und der wachsenden internationalen Isolierung der Russischen Föderation gewisse chauvinistisch-rechtsnationale Ressentiments verstärkt. Der Kreml schürt immer mehr die Vorstellung, dass man von aussen, von einer Art Globalismus bedroht sei, wogegen man die Verteidigung (teils?) imaginierter national definierter traditioneller Werte, Heimat und Identität immer mehr betont.
Im Zusammenhang damit werden die wenigen Räume freier Artikulation immer weiter eingeschränkt. Gerade was den öffentlichen Diskurs über den Krieg gegen die Ukraine anbetrifft, werden Ansichten, die von der offiziellen Staatsdoktrin abweichen, immer mehr kriminalisiert. Sowohl durch die Gleichschaltung der Medien als auch durch Änderungen im Strafgesetzbuch und Ordnungswidrigkeitengesetz, die abschreckende Repression gegen regierungs- und kriegskritische Aktivitäten ermöglichen. Dass Meinungen neben der öffentlichen Staatsdoktrin kriminalisiert werden, deutet womöglich sogar auf einen Übergang von autoritär gelenkten Halbfreiheiten zu einer Art von Totalitarismus hin.[36]
Da Russland ungemein stärker autoritär ist als die Ukraine, sich vielleicht gar auf dem Weg zu einer Art Totalitarismus befindet, ist eine Unterstützung der russischen Zivilbevölkerung sehr viel schwieriger. Grundsätzlich gilt es aber auch in Russland, den zivilen Ungehorsam, insbesondere seitens antiautoritärer Linken, gegen das Regime zu unterstützen. Auch für Russland sollte es das mittelfristige Ziel sein, das Putin-Regime umzuwerfen, um eine wirkliche liberale Demokratie mit umfangreichen Rechten zu ermöglichen und den Markt für öffentliche Dienstleistungen durch ein egalitär zugängliches staatliches Sozialsystem zu ersetzen. Aus diesen Gründen unterhält die BFS enge Kontakte mit der Russländischen Sozialistischen Bewegung (RSD) und dem Sozialnyj Ruch, publiziert ihre Erzeugnisse und richtet gemeinsame Veranstaltungen aus, um antiautoritär-sozialistischen Stimmen aus Russland un der Ukraine auch im Westen eine Plattform zu bieten. Die BFS will ihre Genoss:innen der RSD dabei unterstützen, in Russland eine echte bürgerliche Demokratie zu ermöglichen; auch als Sprungbrett für einen einstigen sozialistischen Bruch mit dem Kapitalismus.
Die russische Autokratie ist institutionell und gesellschaftlich fest verankert. Ein breites Niederlegen der Waffen oder ein Abzug aus der Ukraine ist ohne militärischen Druck seitens der Ukraine nicht denkbar. Anlass zur Hoffnung gibt allerdings, dass die RSD mit dem ukrainischen Sozialnyj Ruch kooperiert und gemeinsam für Waffenlieferungen an den ukrainischen Widerstand aus allen erhältlichen Quellen ausspricht. Dies zeigt, dass auch unter den Befürworter:innen von Waffenlieferungen durch die verfügbaren Quellen durchaus russische Arbeiter:innenorganisationen existieren, die eine unabhängige Position vom russischen Klassenstaat vertreten.
Haltloses Umstürztlertum: nicht nur ahistorisch, sondern gefährlich
Gerade geht es darum, dass die Ukraine ein souveräner Staat bleibt, bzw. überhaupt erst im vollumfänglichen Sinne einer wird. Darum, dass die defekte Demokratie überhaupt erst zu einer wirklichen Demokratie wird. Gerade geht es auch darum, dass die breite russische Bevölkerung sich gegen ihren Despoten im Kreml wendet und hoffentlich erstmalig erfolgreich wirkliche demokratische Freiheiten erkämpft. Das längerfristige Ziel bleibt selbstredend, die «Regierungsmaschine der herrschenden Klassen» durch eine «eigne Regierungsmaschine» der Lohnabhängigenklasse zu ersetzen.[37] Gegenwärtig aber ist dies sowohl in der Ukraine wie in Russland absolut ahistorisch, oder auf Gutdeutsch: unmöglich!
Die ukrainische Lohnabhängigenklasse muss gegenwärtig, wenn auch kritisch und misstrauisch, mit der bürgerlichen Gesellschaft und Regierung in der Ukraine kooperieren. Vor allem ist sie auf Waffenlieferungen aus NATO-Mitgliedstaaten angewiesen. Eine falsche Auffassung von unabhängiger Klassenposition darf nicht dazu führen, dass bspw. Arbeiter:innen in Griechenland Panzerlieferungen aus den USA verhindern. Einige Linke, die prinzipiell zwar das Recht auf Widerstand einer angegriffenen Bevölkerung hochhalten, mögen solche Boykottaktionen in ihren Parolen und Publikationen ja gutheissen. Aber tatsächlich führt dies nur zur Schwächung des ukrainischen Widerstands, von dem auch die Arbeiter:innenorganisationen in der Ukraine ein Teil sind.
Revolutionsromantische Phrasen, die eine proletarische Klassenposition nur abseits von Waffenlieferung aus dem Westen anerkennen, sind zurzeit nicht nur idealistische Wunschträume, sondern liefern die ideologische Rechtfertigung für einen de facto Absentismus. Sie missverstehen nicht bloss historische Entwicklungen, soziale Gefüge und gesellschaftliche Bedingungen, sondern disqualifizieren ganz konkret die aktive Unterstützung tagespolitischer Kämpfe.
Wie eine unabhängige Klassenposition innerhalb der gegebenen Rahmenbedingungen aber tatsächlich aussehen kann, zeigen uns revolutionär-linke Organisationen in der Ukraine und in Russland. Nicht zuletzt deswegen ist es wichtig, dass auch die westliche Linke die subjektiven Interessen und Perspektiven der durch den russischen Angriffskrieg oder die Repression des russischen Regimes Betroffenen einbezieht und die strategischen Schlüsse, die die ukrainische und russische Linke aus ihren praktischen Erfahrungen zieht, in ihren eigenen Klärungsprozess miteinbezieht.