Nelli Tügel
Hunderttausende sind vor dem Krieg aus Russland geflohen – Wege in die EU bleiben ihnen verschlossen
Fantasie von übermorgen. So heißt ein Anti-Kriegs-Gedicht, das Erich Kästner 1929 schrieb: »Und als der nächste Krieg begann / da sagten die Frauen: Nein / und schlossen Bruder, Sohn und Mann / fest in der Wohnung ein. / Dann zogen sie in jedem Land / wohl vor des Hauptmanns Haus / und hielten Stöcke in der Hand / und holten die Kerls heraus (…)«, heißt es dort.
Die Fantasie von übermorgen wurde im September in Jakutien/ Sacha zur Realität von heute – ein bisschen zumindest. In Jakutsk, der Hauptstadt dieser Teilrepublik im Fernen Osten Russlands, kreiste ein großer Pulk von Frauen eine Gruppe von Polizisten ein. Mutmaßlich waren es Mütter, Schwestern, Ehefrauen und Freundinnen von Reservisten, denen die Rekrutierung drohte. Videos davon zogen in Sozialen Medien weite Kreise. Laute Wortgefechte zwischen Sicherheitsbeamten und aufgebrachten Frauen, die auf den Krieg schimpften und seine Gründe offen infrage stellten, ebenso wie tumultartige Szenen wurden auch in Chassawjurt in Dagestan gefilmt. In Grosny, der Hauptstadt Tschetscheniens, gerieten 130 Frauen, viele davon Mütter von (potenziellen) Rekruten, in Haft, nachdem sie zu Protesten gegen die Mobilmachung aufgerufen hatten.
Diese betrifft bisher 300.000 – dem Recht nach männlichen – Reservisten; Russlands Präsident Wladimir Putin hatte sie am 21. September verkündet. Die Verantwortung für die Organisation der Einberufungen liegt bei den Gouverneuren der Regionen und Kreiswehrersatzämtern vor Ort. Etlichen Berichten zufolge erfolgt(e) die Einberufung dabei einerseits recht willkürlich – sie könnte im Prinzip jeden der 25 Millionen Reservisten treffen und traf bisher schon mehrfach auch Menschen, die eigentlich (noch) unter Ausnahmeregelungen fallen müssten, etwa weil sie viele Kinder haben. Andererseits gibt es offenbar einen, auch rassistisch begründeten, Gap zwischen den westrussischen Metropolen wie Moskau und St. Petersburg und den Regionen.
Dass spontane Proteste von Angehörigen in jenen Teilrepubliken, in denen Minderheiten leben, stattfanden, war daher kein Zufall: Viele Berichte legen nahe, dass die Einberufungen überproportional Männer, die diesen Minderheiten angehören, betreffen. Auch unter den bisherigen Toten in dem Krieg gegen die Ukraine sind sie unverhältnismäßig stark vertreten. Die Journalistin und ak-Autorin Anastasia Tikhomirova verwies am 23. September unter Berufung auf die Free Buryatia Foundation darauf, dass »auf einen im Krieg gefallenen Moskauer 87,5 Dagestaner, 275 Burjaten und 350 Tuviner (Republik Tuva)« kämen. Die Bewegung Feministischer Widerstand gegen den Krieg aus Russland sprach diesbezüglich in einem am 22. September veröffentlichten Statement von »ethnischer Säuberung«.
Doch nicht nur in Dagestan, Tschetschenien oder Jakutien kam es zu spontanen, oft weiblich geprägten Protesten. Überall in Russland gingen in den Tagen nach Verkündung der Mobilmachung Menschen, wenn auch oft kleinere Gruppen, auf die Straßen – zum ersten Mal seit dem Frühjahr. Und noch eine weitere, vermutlich sehr viel größere Gegenbewegung zum Krieg setzte sich mit der Mobilmachung in Gang: Zehntausende potenzielle Rekruten verließen fluchtartig das Land.
Grenzen dicht
Schon seit Beginn des Krieges haben viele Menschen Russland den Rücken gekehrt. Laut einer Studie der Gruppe OK Russians, einer gemeinnützigen Organisation, die russische Kriegsgegner*innen unterstützt, sind bis Mitte März bereits 300.000 Russ*innen – die Zahl bezieht sich nicht allein auf Militärdienstentzieher – aus dem Land geflohen, vor allem nach Georgien, Armenien, Serbien, Kasachstan, in die (damals noch offenen) baltischen Staaten, die Türkei oder nach Israel. Der Verein Connection e.V. aus Offenbach, der Kriegsdienstverweigerer, Militärdienstentzieher und Deserteure (1) unter anderem aus Russland, Ukraine und Belarus unterstützt, schreibt auf seiner Seite: »In ganz Westeuropa gab es von Januar bis Juni 2022 nach Angaben von Eurostat gerade mal 4.660 Asylantragstellungen von russischen Staatsangehörigen.«
Das setzte sich nach Verkündung der Mobilmachung fort. Sie bewirkte eine erneute Fluchtwelle, vor allem von Reservisten. Kilometerlange Autoschlangen an den Grenzen Russlands sowie ausgebuchte Flieger in visumsfrei von Russland aus erreichbare Länder wie Serbien oder die Türkei unmittelbar nach Putins Rede ließen vermuten, was (geschätzte) Zahlen inzwischen belegen: Weitere etwa 260.000 Männer (Stand Ende September (2)) im wehrpflichtfähigen Alter sollen seit dem 21. September Russland verlassen haben. Auch hier gilt, was zuvor schon so war: Der größte Teil von ihnen kommt nicht bis nach Deutschland oder Westeuropa, sondern strandet in Ländern wie Kasachstan, Georgien, der Türkei und so weiter.
Ein großes Problem für diese Menschen: Die Grenzen nach Westen sind dicht. Mitte September setzten die EU-Staaten ein 2007 geschlossenes Abkommen zur Erleichterung der Visavergabe für russische Staatsbürger*innen aus. Vier EU-Anrainerstaaten zu Russland – Polen, Litauen, Lettland und Estland – erließen im September de facto ein Einreiseverbot für Russ*innen, Finnland stoppte die Ausgabe touristischer Visa. Auch, wer noch in Russland ist und für die Bundesrepublik ein Visum beantragt, hat kaum eine Chance, es zu erhalten. Rudi Friedrich, Geschäftsführer von Connection e.V., berichtet im Gespräch mit ak etwa von dem Fall eines Russen, dessen Antrag erst kürzlich noch mit der Begründung abgelehnt wurde, dass dessen Rückkehr nach Russland nicht zu erwarten sei. Die vielzitierten humanitären Visa sind eine Möglichkeit, für politisch verfolgte Oppositionelle, von ihnen wurden einige wenige auch vergeben. Militärdienstentzieher aber sind oft keine Oppositionellen, sondern eben Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – einfach nicht in diesen Krieg hineingezogen werden wollen. Wenn sie es zumindest aus Russland heraus geschafft haben und dann – wie die meisten – in einem Nicht-EU-Staat festhängen, sind nach derzeitiger Rechtslage ihre Chancen, mit einem Visum nach Deutschland oder in ein anderes westeuropäisches Land zu kommen, gering, so berichtet es Friedrich aus der Praxis. Die meisten Anfragen, die den Verein erreichen, betreffen genau solche Männer: Militärdienstentzieher, die nun in der Türkei, Georgien oder Kasachstan sind. Deswegen wäre das Wichtigste zunächst, die Grenzen für sie zu öffnen und Einreisemöglichkeiten zur Verfügung zu stellen.
Asyl für Deserteure – das aber sind die wenigsten
Es gibt aber zumindest einige Hundert russische Reservisten, die sich einer drohenden Rekrutierung entzogen und es bis nach Deutschland geschafft haben, sogar einigen Deserteuren ist das gelungen, auch wenn ihre Anzahl sehr gering ist. Das sei auch logisch, sagt Friedrich: Desertion ist viel schwieriger als eine Militärdienstentziehung – der Grenzübergang ist dann kaum möglich, wenn ein Deserteur aufgegriffen wird, drohen ihm hohe Strafen. Dennoch ist es einigen – im Vergleich wenigen – gelungen. Für sie gibt es zumindest eine klare Asylaussage seitens des Bundesinnenministeriums. Im April hatte Faesers Haus in einer Sitzung auf Fragen des Bundesinnenausschusses folgendermaßen dazu Stellung bezogen: »Bei glaubhaft gemachter Desertion eines russischen Asylantragstellenden kann für den Fall seiner Rückkehr in die Russische Föderation derzeit in der Regel von drohenden Verfolgungshandlungen (§ 3a AsylG) ausgegangen werden. (…) Weiterhin kann derzeit davon ausgegangen werden, dass drohende Verfolgungshandlungen in der Regel in Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund (§ 3b AsylG) erfolgen. Da bereits die Bezeichnung ›Krieg‹, bezogen auf den Angriff auf die Ukraine, in der Russischen Föderation als oppositionelle politische Darstellung geahndet werden kann, kann eine Desertion – als aktives Bekunden gegen die Kriegsführung – als Ausdruck einer oppositionellen Überzeugung gewertet werden.« Diese Argumentation ist wichtig, weil Desertion – ebenso wie Kriegsdienstverweigerung oder Militärdienstflucht – an sich noch nicht als Asylgrund gilt. Indem die Desertion aus der russischen Armee als politisch-oppositioneller Akt interpretiert wird, öffnet sich hier die Tür für Asyl für russische Deserteure.
Desertion an sich gilt noch nicht als Asylgrund.
Allerdings: In derselben Stellungnahme stellte das Innenministerium auch klar, dass »sich die Ausführungen (…) ausschließlich auf die Situation von Deserteuren« beziehen. Wehrdienstflüchtlinge seien davon ausdrücklich »nicht umfasst«. Das heißt: Für den übergroßen Teil der Menschen, die Russland verlassen haben, um einer Rekrutierung zuvorzukommen, gilt das nicht. Sie müssten, so erklärt es Rudi Friedrich, in einem Asylverfahren nachweisen, dass ihre Rekrutierung in den völkerrechtswidrigen Krieg wahrscheinlich gewesen wäre. Wenn aber jemand seinen Einberufungsbefehl noch nicht erhalten hat, ist das schwierig: Bei 25 Millionen Reservisten gelten 300.000 Einberufungen noch nicht als nach dem Asylrecht notwendiger ausreichender Beleg einer »hohen Wahrscheinlichkeit«.
Dass eine einfache und großzügige Regelung möglich und schnell umsetzbar ist, wenn der politische Wille existiert, zeigt eine andere, inzwischen recht große Gruppe von Militärdienstentziehern, über die öffentlich derzeit – anders als über die russischen – kaum gesprochen wird: Schätzungsweise 145.000 wehrpflichtige Personen aus der Ukraine, auch diese Zahl stammt von Connection e.V., halten sich in der EU auf. Als ukrainische Staatsbürger gelten auch für sie die Regelungen zum Aufenthalt, die für Ukrainer*innen nach Beginn des Angriffskrieges erlassen wurden. Jedoch nicht alle, die sich dem Krieg entziehen wollen, schaffen es auch: Einem Bericht der französischen Zeitung Le Monde zufolge aus dem August waren damals schon 6.400 (mögliche) Rekruten von ukrainischen Grenzwachen aufgegriffen worden. Mit der Verhängung des Kriegsrechts war in der Ukraine im Februar eine Ausreisesperre für Männer zwischen 18 und 60 Jahren verhängt und auch das vorher dort existierende Recht auf Kriegsdienstverweigerung eingeschränkt worden.
Angst vor dem Präzedenzfall
Für die derzeit in deutschen wie europäischen Medien und Öffentlichkeiten so viel diskutierten, oft fälschlicherweise Deserteure genannten Militärdienstentzieher aus Russland lässt sich die Situation so zusammenfassen: Die Rechtslage ist kompliziert, viele Wege sind ihnen verschlossen. Doch warum eigentlich? Müsste es nicht auch im Interesse der Alliierten der Ukraine liegen, Absetzbewegungen aus der russischen Armee zu befördern? Haben sich doch zumindest die deutsche oder die französische Regierung offen für deren Aufnahme gezeigt.
Einerseits ja, andererseits dürfte die Sorge vor einem Präzedenzfall hier groß und auch der Grund dafür sein, dass es bisher keine klare Regelung gibt: Denn was für Verweigerer und Sich-Entzieher aus Russland gilt, könnte dann auch im Falle anderer Kriege der Gegenwart und künftiger Kriege in Anspruch genommen werden wollen. Und: Jeder Staat, auch die Bundesrepublik, in der die Wehrpflicht zwar ausgesetzt, aber weiterhin aktivierbar ist, nimmt für sich eben in Anspruch, seine Bürger*innen potenziell auch zum Töten und Getötetwerden verpflichten zu können.
Darauf verweist etwa der Freiburger Historiker und Kultursoziologe Ulrich Bröckling in einem Gespräch mit der Schweizer WOZ. Sich zu verweigern beinhalte, so Bröckling – unabhängig von den individuellen Motiven – immer auch »ein anarchistisches, staatskritisches Moment«. Auch deshalb sei der »Umgang mit Deserteuren und Verweigerern so ein heißes Eisen, und deshalb tun sich Staaten so schwer damit, ein Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung anzuerkennen und Deserteuren aus anderen Staaten Asyl zu gewähren«.
Somit bleibt es vorerst Gruppen wie Connection e.V. in Deutschland und ähnlichen Initiativen anderswo sowie Fluchthilfestrukturen in den betroffenen Ländern vorbehalten, das, was eben kein Menschenrecht ist, aber eines sein sollte und was ins Kästners Fantasie die Frauen erkämpfen, zu ermöglichen: nicht mitmachen zu müssen beim Krieg und abhauen zu können.