Die Frage nach den Beweggründen der russischen Führung wird seit der russischen Invasion auch unter russischen und ukrainischen Linken intensiv diskutiert. Ihre Antworten machen wenig Hoffnung auf einen Politikwechsel in Russland.
Der für viele überraschende Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar und der seither andauernde Krieg warfen in bis dahin nicht gekannter Dringlichkeit die Fragen auf, wie das Regime von Präsident Wladimir Putin zu verstehen sei und warum und mit welchen Zielen es sich für den Krieg entschieden habe. Wie wenig die etablierte Politikwissenschaft zur Beantwortung dieser Frage beitragen konnte, wurde offensichtlich an der Wiederkehr der sogenannten Kreml-Astrologie. Mit diesem Begriff wurde in den achtziger Jahren die von vielen Spekulationen geprägte Praxis westlicher Beobachter beschrieben, auf Basis bruchstückhafter Informationen und fokussiert auf die Staats- und Parteiführung politische Entwicklungen in der Sowjetunion zu deuten.
Zudem war die öffentliche Debatte in den ersten Wochen und Monaten des Kriegs von personalisierenden und pathologisierenden Darstellungen geprägt, die die militärische Auseinandersetzung als Resultat persönlicher Traumata, Neurosen und Wahnideen Putins ansahen. Mittlerweile hat es sich, durchaus über das linke und linksliberale Lager hinaus, eingebürgert, den Krieg als Ausdruck von russischem Imperialismus, Kolonialismus oder gar Faschismus zu bezeichnen. Doch bleiben diese Begriffe oft leere Hüllen, die nicht durch tiefergehende Analysen und Versuche, das Geschehen theoretisch zu fassen, gefüllt werden. Meist bleibt es dabei, die Beweggründe des russischen Präsidenten aus dessen ideologischen Verlautbarungen oder solchen von Wortführern, die ihn angeblich beeinflussen, wie dem nationalistischen Philosophen Aleksandr Dugin, abzuleiten.
Sanktionen gegen die Oligarchen haben wenig Aussicht, den Krieg zu beenden, denn diese verfügen schlicht über keine politische Wirkungsmacht mehr.
Manche versuchen, ein tiefergreifendes Verständnis der Geschehnisse zu erarbeiten. Unter denen, die dies aus einer dezidiert linken Perspektive tun, haben in den vergangenen Monaten Ilja Matweew und Wolodymyr Ischtschenko eine gewisse öffentliche Aufmerksamkeit erlangt. Beide nahmen Mitte Oktober an einer Diskussionsveranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin teil und führten dort miteinander eine kontroverse Auseinandersetzung über die Ursachen des russischen Krieges.
Matweew ist Politikwissenschaftler und Universitätsdozent aus Sankt Petersburg, der wegen der sich verschärfenden Repression in Russland nach Kriegsausbruch das Land verlassen hat. Er ist beteiligt an der Internetplattform Posle (Danach), auf der russische Linke diskutieren, warum dieser Krieg begann, warum es bisher nicht gelingt, ihn zu beenden, und wie die Zeit danach aussehen könnte. Der ukrainische Soziologe Ischtschenko forscht in Berlin und setzt sich seit Jahren kritisch mit den Entwicklungen in der Ukraine auseinander.
Beide argumentieren auf marxistischer Grundlage und verstehen Putins Herrschaft als bonapartistisches Regime. Der Begriff Bonapartismus bezieht sich auf Marx’ Text »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« von 1852, in dem dieser die Herrschaft des damaligen französischen Kaisers, Napoleons III., analysiert, dem es gelungen war, gestützt auf Plebiszite die Zweite Französische Republik zu stürzen. Es habe, so Marx, eine Konflikt- und Krisensituation vorgelegen, in der weder die Bourgeoisie noch das Proletariat eine klare Dominanz erringen konnte; so habe Napoleon III., gestützt auf Lumpenproletariat und Bauernschaft, sich zum Herrscher aufschwingen können und dadurch die Interessen des Bürgertums als Klasse gesichert, es aber gleichzeitig seiner politischen Macht beraubt. Bonapartistische Herrschaft ist also die autoritäre Herrschaft einer Person, die von einer plebiszitären Zustimmung eines relevanten Teils der Bevölkerung getragen wird.
Ein solches Regime führe auch Putin, der nach dem Beginn seiner Herrschaft im Jahr 2000 die politischen Ambitionen der russischen Oligarchen repressiv zunichtemachte, beispielsweise durch den Prozess gegen Michail Chodorkowskij, gleichzeitig aber ihre ökonomische Position sicherte. Von vielen russischen Bürgern als Garant von Ordnung und Stabilität nach dem Chaos der neunziger Jahre wahrgenommen, genoss er besonders in der Zeit des Rohstoffbooms und des Wirtschaftswachstums in den nuller Jahren eine hohe Zustimmung, die erst langsam zu erodieren begann.
Dieser Blick auf das Regime macht deutlich, warum der Versuch, durch Sanktionen gegen die Oligarchen den Krieg zu beenden, wenig Aussicht auf Erfolg hat: Diese verfügen schlicht über keine politische Wirkungsmacht mehr. Uneins sind sich Matweew und Ischtschenko jedoch über die Ursachen des Kriegs. Matweew sieht diesen als Resultat geostrategischer, imperialistischer Bestrebungen des Machtzirkels um Putin an, der sich über die Interessen der russischen Kapitalisten hinwegsetzt. Denn für diese seien die ökonomischen Folgen des Krieges verheerend. Ischtschenko hingegen, der seine These ausführlich in einem Beitrag in dem Magazin Jacobin entwickelte, interpretiert den Griff zur militärischen Gewalt gerade als Versuch, die Interessen der Klasse der postsowjetischen Kapitalisten in Russland zu sichern. Diese sei im internationalen Konkurrenzkampf weder durch die Ausbeutung billiger Arbeitskräfte – Russlands Industrie konnte in dieser Hinsicht nie beispielsweise mit asiatischen Billiglohnländern konkurrieren – noch durch technische Innovationen wettbewerbsfähig, sondern nur als Klasse »politischer Kapitalisten« aufgrund ihrer Nähe zur Macht und durch den Zugang zu staatlichen Ressourcen. Daraus ergebe sich in weiten Teilen der herrschenden Klasse ein Interesse, diese staatliche Macht und ihre Unabhängigkeit von den westlichen Staaten zu stärken – und auch eines an ihrer Expansion über die derzeitigen Grenzen Russlands hinaus.
Daneben gebe es ein Eigeninteresse des Regimes an dem Krieg, das mit der Schwierigkeit der Machtnachfolge in einem bonapartistischen Regime zusammenhängt. Putin hat zwar alle Beschränkungen umgangen, die die russische Verfassung für die Amtszeit von Präsidenten vorsah, doch er wird nicht ewig leben. Der Tod des Machthabers ist ein Moment in dem derartige Regime kollabieren können. Ein erfolgreicher Krieg hätte, so die Annahme, das unter Putin in Russland entstandene politische System derart stabilisiert, dass es den Tod des Herrschers und den Amtsantritt eines Nachfolgers überstehen könnte.
Das Scheitern des russischen Militärs in der Ukraine stellt das Regime vor verschiedene Probleme. Die Politik Putins verliert an Unterstützung, wie die Massenflucht Wehrpflichtiger und ihrer Familien deutlich zeigt. Das untergräbt durchaus die Grundlagen seiner auf plebiszitärer Zustimmung basierenden Herrschaft. Eine Verschärfung der Repression ist bereits die Folge. Zudem dürfte das derzeitige Desaster nicht dazu angetan sein, einen strahlenden Kronprinzen aufzubauen, der einst die politische Macht übernehmen kann.
Anschließend an Ischtschenko wäre zu vermuten, dass eine umfassende militärische Niederlage Russlands auch der dortigen postsowjetischen Wirtschaftsordnung ein Ende bereiten könnte. Dies dürfte in Form einer tiefgreifenden Krise ähnlich der der neunziger Jahre geschehen. Diese Aussicht könnte die politischen Kapitalisten Russlands dazu veranlassen, dem Regime als Garanten der eigenen Stellung weiterhin die Treue zu halten. Somit ist zu befürchten, dass in diesen Kreisen auch die Unterstützung für eine noch extremere und brutalere Kriegsführung zunimmt, um eine Niederlage und den drohenden Zerfall des sie schützenden Regimes zu verhindern.