Wolodymyr Ischtschenko (Ishchenko)
Um Russlands Invasion der Ukraine zu verstehen, muss man die postsowjetischen Kapitalisten kennen.
Seit die russische Armee in die Ukraine eingefallen ist, ringen Analystinnen und Analysten des gesamten politischen Spektrums damit, zu bestimmen, wer oder was genau uns in diese Lage gebracht hat. Es wird mit Begriffen wie »Russland«, »die Ukraine«, »der Westen« oder »der Globale Süden« um sich geworfen, als bezeichneten sie einheitliche politische Akteure. Selbst auf der Linken werden die Äußerungen von Wladimir Putin, Wolodymyr Selenskyj, Joe Biden und anderen Figuren der Weltpolitik über »Sicherheitsbedenken«, »Selbstbestimmung«, »zivilisatorische Entscheidung«, »Souveränität«, »Imperialismus« oder »Antiimperialismus« oft für bare Münze genommen, als drückten sie kohärente nationale Interessen aus.
Insbesondere die Debatte darüber, welches Interesse Russland – oder, genauer gesagt, seine herrschende Clique – am Krieg haben könnte, tendiert dazu, sich um fragwürdige Extrempositionen zu polarisieren. Einerseits nehmen viele einfach für voll, was Putin sagt, ohne zu fragen, ob seine Besessenheit von der NATO-Erweiterung oder sein Beharren darauf, dass Russinnen und Ukrainer »ein Volk« seien, Russlands nationale Interessen widerspiegeln oder von der russischen Gesellschaft insgesamt geteilt werden. Andererseits werden solche Aussagen von vielen als dreiste Lügen und strategische Kommunikation abgetan, die keinerlei Bezug zu Putins »wahren« Zielen in der Ukraine hätten.
Beide Positionen tragen auf ihre Weise dazu bei, die Beweggründe des Kremls zu verschleiern, anstatt sie einsehbar zu machen. So wie heute über die russische Ideologie diskutiert wird, könnte man glauben, ins Jahr 1845 zurückversetzt worden zu sein, als sich Karl Marx und Friedrich Engels dazu veranlasst sahen, die Deutsche Ideologie zu schreiben. Die einen betrachten die in Russland dominante Ideologie als ein getreues Abbild seiner sozialen und politischen Ordnung. Andere glauben, sie müssten nur verkünden, dass der Kaiser keine Kleider trägt, um die freischwebende Blase der Ideologie zu durchstoßen und die herrschende Ordnung zu zerschlagen.
Die reale Welt ist leider komplizierter. »Was Putin wirklich will«, versteht man nicht, indem man obskure Phrasen aus seinen Reden und Artikeln herauspickt, die zu den eigenen vorgefassten Urteilen passen. Der Schlüssel liegt vielmehr in den materiellen Interessen, der politischen Organisation und der ideologischen Legitimation der gesellschaftlichen Klasse, die er repräsentiert. Diese zu analysieren ist aus gutem Grund seit jeher eines der Hauptanliegen des Marxismus.
Auch die Interessen, die die herrschenden Klassen im Westen und in der Ukraine in diesem Konflikt verfolgen, können und sollten in dieser Weise analysiert werden. Angesichts dessen, dass die Herrschenden in Russland die hauptsächliche Verantwortung für den Krieg tragen, ergibt es aber Sinn, auf sie zu fokussieren. Wenn wir verstehen, welches materielle Interesse sie an der laufenden Invasion haben, können wir fadenscheinige und oberflächliche Erklärungen hinter uns lassen und zu einer Langzeitperspektive gelangen. Dann werden wir sehen, wie dieser Krieg in dem ökonomischen und politischen Vakuum begründet ist, das durch den Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 entstand – und warum die einzige Möglichkeit, der Region Frieden und Stabilität zu bringen, darin besteht, dieses Vakuum zu füllen.