Serhii Guz LeftEast
In der Ukraine werden soziale Errungenschaften ausgehöhlt, kritisiert der Journalist Serhii Guz
Der 52-jährige Serhii Guz arbeitet seit 27 Jahren als Redakteur. Er war einer der Gründer und Leiter der Unabhängigen Mediengewerkschaft der Ukraine und ist Mitglied der Kommission für Journalismusethik. Mit Lefteast spricht er über die Auswirkungen des Kriegsrechts auf die ukrainische Gesellschaft.
Wie sahen die Arbeitsbedingungen vor dem Krieg aus? Und wie waren die Gewerkschaften in der Ukraine so?
Serhii Guz: Sowohl die schlechten Arbeitsbedingungen als auch die Angriffe auf die Gewerkschaften hatte es schon lange vor dem Krieg gegeben. Die eigentliche Katastrophe ereignete sich unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als die Ukraine zur Marktwirtschaft überging. Tausende Unternehmen schlossen, andere zahlten die Löhne nicht rechtzeitig, im Land blühten Tauschhandel und Erpressung. Zu dieser Zeit verschlechterten sich die Arbeitsbedingungen, Gesundheits- und Sicherheitsstandards wurden nicht mehr eingehalten, Sozialleistungen wurden gestrichen.
Zu Beginn der 2000er Jahre, als sich die Wirtschaft zu erholen begann, schienen sich die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Doch genau in dieser Zeit begann die Kampagne zur Diskreditierung der Gewerkschaften. Mit dem Regierungsantritt der Partei Diener des Volkes (Wolodymyr Selenskyjs Partei, ak-Red.), die einen äußerst liberalen Reformkurs einschlug, verschärften sich die Angriffe auf Gewerkschaften und Arbeitnehmer*innenrechte noch einmal drastisch. Doch erst mit dem Kriegsrecht, das Streiks und Massenproteste in der Ukraine verbot, gelang es ihr, diese Reformen vollständig umzusetzen. Die Gewerkschaften konnten sich unter diesen Bedingungen einfach nicht wehren.
Welche konkreten Reformen des Arbeitsrechts finden jetzt unter dem Kriegsrecht statt? Und wie werden sie sich auf die Arbeiter*innen auswirken?
Die Regierung hat mehrere Gesetze verabschiedet, die sowohl die Arbeiter*innenrechte als auch die Gewerkschaftsarbeit stark einschränken. So können heute Arbeitnehmer*innen ohne Zustimmung der Gewerkschaften entlassen werden, was vor dem Krieg illegal gewesen wäre. Außerdem wurde den Arbeitgeber*innen das Recht eingeräumt, Arbeitsverträge einseitig zu kündigen und die Arbeitsbedingungen zu ändern. Auch die Gültigkeit von Tarifverträgen wurde erheblich eingeschränkt. Im Grunde wurden alle sozialen Errungenschaften, die die ukrainischen Bürger*innen in Bezug auf die Arbeitsrechte hatten, durch die neuen Normen zunichte gemacht.
Um Massenproteste zu vermeiden, einigte sich das Parlament darauf, die Wirkung der abscheulichsten Regeln auf die Dauer des Kriegsrechts zu begrenzen. Aber wir sollten uns nicht täuschen – diese Gesetze wurden lange vor der russischen Invasion ausgearbeitet – in der Erwartung, dass sie jahrzehntelang Bestand haben werden. Deshalb habe ich keinen Zweifel daran, dass die Regierung und die Unternehmer*innen unter irgendeinem Vorwand versuchen werden, all diese Änderungen aufrechtzuerhalten.
Können Sie uns sagen, was in den letzten Monaten in der ukrainischen Medienlandschaft passiert ist?
Wir erleben auch im Medienbereich eine schwere Krise. Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch professionell und wahrscheinlich auch ideologisch. Der Glaube, dass »demokratischer« Journalismus mit Konzepten wie Propaganda, Zensur, Selbstzensur oder Halbwahrheiten unvereinbar sei, bröckelt vor unseren Augen. Im Krieg haben sie unter dem Deckmantel des Patriotismus wieder Einzug in den Journalismus gehalten.
Die ukrainischen Medien können heute nicht nach demokratischen Standards arbeiten, weil Krieg herrscht und weil sich die Bedingungen auf dem Medienmarkt rapide verschlechtern. Der Werbemarkt ist zusammengebrochen. Die Abonnements sind rückläufig. Zeitungen schließen, lokale Fernsehsender machen dicht. Es gibt immer weniger wirklich unabhängige Medien, und die, die übrig bleiben, werden meist von westlichen Stiftungen unterstützt. Und das wirkt sich auch auf ihre Arbeit aus.
Doch anstatt die Medien in der Ukraine zu unterstützen, versucht die Regierung, die staatliche Kontrolle über die Journalist*innen zu verschärfen. Das Parlament hat bereits in erster Lesung über den Gesetzentwurf »Über die Medien« abgestimmt, der alle ukrainischen Medien einer staatlichen Aufsicht unterstellt. Das gab es nicht einmal zu Zeiten von Kutschma oder Janukowitsch, als wir Diktatur und autoritäre Herrschaft hatten.
Was ist mit den oppositionellen politischen Parteien geschehen?
Die einzige Partei, die in Opposition zur Regierung steht, ist die Europäische Solidaritätspartei des Oligarchen und ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko. Außerdem gibt es rechtsradikale nationalistische Parteien, die sich oft mit Poroschenko verbünden.
Es ist bemerkenswert, dass das Kassationsgericht erst neulich das Verbot der Partei »Oppositionsplattform – Für das Leben« (1) ausgesprochen hat, die eine sehr große Fraktion im Parlament hatte. Es ist nicht verwunderlich, dass das Kassationsgericht die Urteile der Vorinstanzen nicht infrage stellte und den Beschluss zum Verbot der Partei aufrechterhielt. Aber was hat sie sich zuschulden kommen lassen, ist für die Gesellschaft immer noch ein Rätsel. Wir sollen einfach glauben, dass die Partei im Interesse unseres Feindes, Russland, gehandelt hat. Gleiches gilt für ein weiteres Dutzend Parteien, die meisten von ihnen linksgerichtet, darunter die älteste, die Sozialistische Partei der Ukraine, die aus denselben Gründen verboten wurden.
In einer Zeit, in der sich die Ukraine inmitten einer so existenziellen Bedrohung wie diesem Krieg befindet, ziehen es die meisten vor, die Handlungen ihrer Behörden nicht zu kritisieren. Doch Sie weigern sich, selbst in einem solchen Moment zu schweigen. Könnte diese Weigerung nicht als Hilfe für Putin gewertet werden?
Das ist derzeit das Drama für viele Menschen wie mich: Wir hören viele Anschuldigungen dieser Art. Aber ich liebe die Ukraine genauso sehr wie alle anderen Bürger*innen. Und natürlich bin ich schockiert über diese ungeheuerliche Aggression vonseiten Putins, für die es keine Rechtfertigung gibt.
Natürlich braucht die Ukraine in diesem Krieg Unterstützung, vor allem humanitäre Hilfe. Aber auch die demokratischen Institutionen des Landes brauchen Unterstützung – die Presse, Parteien und öffentliche Organisationen, der Parlamentarismus und viele andere. Aber »Unterstützung« ist nicht nur Geld, oder? Es bedeutet auch, ehrlich über die bestehenden Probleme zu sprechen, gemeinsam nach einem Ausweg aus der Situation zu suchen, der die demokratischen Errungenschaften, die in der Ukraine bereits erreicht wurden, nicht schmälert.
Sie haben auch angesprochen, dass die ukrainische Gesellschaft – nicht nur die ukrainische Regierung – im Laufe des Krieges weniger demokratisch geworden ist. Ist dies nicht eine unvermeidliche Folge der Kriegsbedingungen, für die Putin verantwortlich ist? Was sind Ihrer Meinung nach die langfristigen Folgen dieser Entwicklung in der ukrainischen Gesellschaft?
Das ist das Paradoxe an den bestehenden »jungen Demokratien«, die immer bereit sind, ihre demokratischen Institutionen unter dem einen oder anderen Vorwand abzubauen. Bei uns geschah dies zum Beispiel wegen der Wirtschaftskrise, dann wegen der Pandemie, jetzt wegen des Krieges, und als nächstes wird der Vorwand die Notwendigkeit sein, die Wirtschaft der Ukraine wieder aufzubauen.
Die Tatsache, dass wir jetzt eine tiefgreifende Umkehrung der Demokratie in der Ukraine erleben, ist natürlich direkt auf Putin und die Aggression zurückzuführen, die er gegen die Ukraine entfesselt hat. Aber es wäre ein großer Fehler, die ganze Verantwortung auf Putin oder Russland allein abzuwälzen. In erster Linie sollten wir uns mit unseren eigenen Fehlern befassen. Dazu gehört auch die so genannte »revolutionäre Zweckmäßigkeit«, die jedes Mal die Abkehr von demokratischen Grundsätzen rechtfertigte, wenn das Land sie am meisten brauchte.
All dies kann für die ukrainische Gesellschaft sehr schlecht enden, vor allem wenn sich der Krieg über Jahre hinzieht. Die Ukrainer*innen werden sich einfach daran gewöhnen, mit einem autoritären Regierungsstil zu leben. Das Land wird jetzt nach dem Kriegsrecht regiert. Und glauben Sie mir, sehr viele Politiker*innen und Beamt*innen werden sich von diesem Regierungsstil nicht trennen wollen. Wir dürfen nicht zulassen, dass dieser Krieg unsere Gesellschaft von innen heraus zerstört.
Sehr viele Politiker*innen und Beamt*innen werden sich von diesem Regierungsstil nicht trennen wollen.
Was ist die Zukunft der Arbeiter*innen und der Arbeitsbedingungen in der Ukraine?
Ich glaube immer noch, dass die ukrainische Armee auf dem Schlachtfeld siegen und der Krieg am Verhandlungstisch enden wird. Aber dann wird alles davon abhängen, inwieweit die ukrainische Zivilgesellschaft, Gewerkschaften und allgemein demokratischen Bürger*innen in der Lage sein werden, ihr Interesse zu bekunden. Die Mindestaufgabe besteht darin, alle bürgerlichen, politischen und sozialen Rechte, die wir vor dem Krieg hatten, ohne Abstriche wiederherzustellen. Aber ich denke, es wird Abstriche geben, vor allem im Bereich der Arbeits- und Sozialrechte. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Ukraine zum Schauplatz für die nächsten sozialen Experimente wird, was ich nicht gerne sehen würde.
Haben Sie einen Rat für uns?
Wir müssen uns dem Wettrüsten entgegenstellen. Denn militarisierte Staaten wie das heutige Russland können leicht einen Krieg gegen diejenigen beginnen, die sie für schwächer halten. Wenn wir die Idee der Abrüstung aufgeben, dann werden die schwächeren Länder gezwungen sein, immer mehr Geld für Waffen auszugeben, statt für Medizin oder Bildung. So plant die Ukraine, im nächsten Jahr 50 Prozent ihres Haushalts für die Armee auszugeben und nur 30 Prozent für Renten und Sozialprogramme, einschließlich Medizin und Bildung. Wir verstehen, warum das so ist, aber wir müssen auch verstehen, dass wir im Krieg wertvolle Ressourcen vergeuden.