Daria Saburova
Der Text ist auf Grundlage eines Redebeitrags entstanden, den die Autorin bei der Veranstaltung „Was heißt Widerstand in der Ukraine? Linke Perspektiven aus dem Ukraine-Krieg“ am 08. Juli 2022 in Frankfurt gehalten hat. Daria Saburova ist ukrainische Wissenschaftlerin und lebt in Frankreich. Im Mai ist sie mit einer internationalen Delegation nach Lwiw gereist, um sich zum Austausch mit ukrainischen Linken zu treffen. Ihr Beitrag handelt von der Frage nach dem imperialistischen Charakter des Krieges einerseits und von der politischen Situation und Praxis sowie solidarischen Verbindungen in der Ukraine andererseits.
SCHLAGWÖRTER
Ukraine; Krieg; Friedensbewegung; Antiimperialismus
Der Krieg in der Ukraine hat zu einer Spaltung in der westlichen Linken geführt. Diese Spaltung zeigt sich sowohl in den theoretischen Analysen als auch in der Praxis, nämlich in Form von zwei verschiedenen Typen von Anti-Kriegs-Bewegung, die sich in den letzten vier Monaten herausgebildet haben.
Eine erste Art von Analyse betont den inter-imperialistischen Charakter des Krieges in der Ukraine. Sie beschreibt ihn als „Stellvertreterkrieg“ der USA gegen Russland und macht vor allem die expansionistische Politik der NATO für den Kriegsausbruch verantwortlich. Auf praktischer Ebene führt das dazu, dass die Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung entweder komplett ausbleibt oder ein reines Lippenbekenntnis bleibt. Die Anhänger_innen dieser Sichtweise verurteilen die Waffenlieferungen an die Ukraine und rufen zu einem sofortigen Friedensabkommen auf. Einem Friedensabkommen, das bei dem derzeitigen Stand der Dinge bedeuten würde, dass die Ukraine das Ziel aufgeben müsste, weite Teile der besetzten Gebiete zu befreien. Eine solche Position wird etwa von der Stop War Coalition in Großbritannien vertreten. Auch viele Feministinnen teilen dieses Verständnis, ausgehend von einem prinzipiellen Antimilitarismus, der Frauen in erster Linie als Opfer von Kriegen betrachtet, und haben die sofortige Einstellung aller Kriegshandlungen gefordert.
Eine zweite, andere Art der Analyse charakterisiert den Krieg als eine imperialistische Aggression Russlands gegen eine ehemalige Semi-Kolonie, eine Aggression „im alten Stil“, bei der es um territoriale Eroberung geht. Auf praktischer Ebene stellen sich die Vertreter_innen dieser Position auf die Seite der angegriffenen Bevölkerung. Und sie bemühen sich, eine Solidarität von unten mit der ukrainischen Linken aufzubauen. So zum Beispiel das European Network for Solidarity with Ukraine. Um solidarische Verbindungen auszubauen, ist eine Delegation dieses Netzwerks Anfang Mai nach Lwiw gereist. Sie hat dort eine Organisation der ukrainischen radikalen Linken getroffen, die sich Sotsialnyi Rukh („Soziale Bewegung“) nennt, sowie weitere unabhängige Gewerkschaften, feministische, antirassistische und antifaschistische Gruppen. Man muss nur die zahlreichen Berichte dieser Delegation lesen, um zu verstehen: Wenn man der Perspektive dieser ukrainischen Gruppen den Vorrang geben will, dann muss man das Recht der Bevölkerung zum (bewaffneten und unbewaffneten) Widerstand anerkennen. Dieser Widerstand hat sich in der Ukraine zu einem Massenphänomen entwickelt, weit über den Staatsapparat und seine Kräfte hinaus.
Warum ist die erste Art von Analyse nicht nur einseitig, sondern grundlegend falsch, und führt außerdem zu praktisch unverantwortlichen Schlüssen? Wenn man sich fast ausschließlich auf die Ausdehnung der NATO als zentralen Faktor für den Ausbruch dieses Krieges beruft, dann wird damit suggeriert, dass Russland einen Verteidigungskrieg führt, der durch reale strategische Sicherheitsbedenken gerechtfertigt ist. Eine solche Analyse aber bringt zahlreiche Probleme mit sich.
Erstens: Es ist kaum zu leugnen, dass der Westen eine entscheidende Rolle bei der Konsolidierung von Putins Regime gespielt hat. Wirtschaftlich hat man Russland Anfang der 1990er Jahre eine "Schocktherapie" verpasst; militärisch die NATO weiter ausgebaut; und politisch wurden viele osteuropäische Länder in die Europäische Union integriert, während sich in den übrigen Satellitenstaaten Russlands westliche Softpower-Institutionen ausgebreitet haben. All das hilft zu verstehen, wie es dazu kam, dass sich in Russland eine besondere Art von politischer Kraft herausgebildet hat und wie diese in den 2000er Jahren ihre Hegemonie durchsetzen konnte. Aber es wäre ein Fehler, dieses Regime als rein reaktiv zu betrachten und seine eigene Handlungsmacht zu verkennen. Man kann sagen, dass das Regime in hohem Maße von dem ökonomischen und gesellschaftlichen Zusammenbruch in den 1990er Jahren profitierte, der die Phase der „ursprünglichen Akkumulation“ des oligarchischen Kapitals begleitet hat. Dieser Zusammenbruch hat die Bedingungen für einen sehr spezifischen Klassenkompromiss geschaffen: Die herrschenden Klassen akzeptieren einen starken Staat, der im Gegenzug für politische Gefolgschaft die Mindestspielregeln in der ökonomischen Sphäre wiederherstellt. Und die beherrschten Klassen klammern sich an eben jenen starken Staat und seine Versprechen von Prosperität und Stabilität in ökonomischer, politischer, sozialer und ideologischer Hinsicht, und von Revanche auf internationaler Ebene.
Das zweite Problem dieser Analyse besteht darin, dass sie eine konkrete Auseinandersetzung damit versäumt, inwiefern die russisch-ukrainischen Verhältnisse von einer besonderen Form von postkolonialer Beziehung geprägt sind. Die lange Geschichte des russischen Imperialismus wird hier unterschlagen, genau wie die Anrufung der imperialen Vorstellungswelt als zentrales ideologisches Mittel zur nationalen Einigung in Russland. Russland hat in der Vergangenheit das neokoloniale Vorhaben verfolgt, seine politische und ökonomische Vorherrschaft über die ehemaligen Sowjetrepubliken ohne unmittelbare Gewaltanwendung aufrechtzuerhalten. So etwa in Belarus bis 2020. Und das Scheitern eines solchen Vorhabens hat bereits etliche Kriege angefacht, in Tschetschenien, Georgien und in der Ukraine. Die Schwäche der russischen Ökonomie und das Versagen darin, eine politische Hegemonie im postsowjetischen Raum aufzubauen, entkräften keineswegs die These, dass es sich bei dem Krieg in der Ukraine um einen imperialistischen Krieg handelt. Sie relativieren auch nicht die Verantwortung des Putin-Regimes, sondern erklären im Gegenteil vielmehr die Eigenart des russischen Imperialismus: eine Kombination aus einem autoritären politischen Regime in einem rund um die großrussisch-nationalistische Idee weitgehend befriedeten Russland einerseits, und einem brutalen militärischen Zwangsregime andererseits, das den rebellischen Peripherien vorbehalten ist – einschließlich der nicht-weißen innerstaatlichen Peripherien wie den Kaukasusrepubliken, die in einem permanenten Ausnahmezustand leben.
So vernachlässigt man drittens faktisch auch die Analyse der Klassenverhältnisse innerhalb Russlands und die Funktion, die der Krieg in ideologischer und in materieller Hinsicht für die Befestigung der Klassenherrschaft spielt. Die Krise von 2008 hat Russland zusammen mit den anderen globalen Volkswirtschaften in den Abgrund gerissen. Das Regime kann fortan seine Popularität nicht mehr auf der Grundlage von Stabilitäts- und Wohlstandsversprechungen sichern, wie das unter den günstigeren ökonomischen Bedingungen im vorangegangenen Jahrzehnt der Fall gewesen war (das insbesondere durch hohe Treibstoffpreise geprägt war). In den Jahren 2011-2012 kam es zu relativ massiven Anti-Putin-Protesten. Mit dem Ende dieser Welle von Kämpfen, die mit äußerster Härte erstickt wurde, hat eine neue Epoche begonnen. Die Ereignisse von 2014 bis 2022 müssen im Kontext der hier vollzogenen, für das Überleben des Regimes notwendigen Wende gesehen werden: einer repressiven, militaristischen Wende, die das bisherige Vorhaben, Russland in die westliche globalisierte Ordnung zu integrieren, zusehends aufgibt und sich stattdessen anderen Allianzen zuwendet.
Der Krieg in der Ukraine stellt einen Knotenpunkt kolonialer und sozialer Befriedung dar: Es geht darum, das Land um jeden Preis in der russischen Einflusszone zu halten. Aber der Krieg wird auch als Mittel im Klassenkampf eingesetzt, zur Aufrechterhaltung und Festigung der Herrschaft in Russland selbst. Mit der Annexion der Krim hat es Putin geschafft, die Nation hinter einem großrussischen Projekt und dem Hass auf den äußeren Feind zu vereinen, die die freiheitsfeindliche Gesetzgebung, verstärkte Überwachung und Repressionen legitimieren sollen.
Viertens wird mit dieser Analyse letztlich den Ukrainer_innen die Handlungsfähigkeit abgesprochen. Die Verweigerung der Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung im Allgemeinen und ukrainischen Organisationen der radikalen Linken, Gewerkschaften, der feministischen und der LGBT-Bewegung geht so weit, dass Kontakte, Dialoge, die Veröffentlichung von Texten und so weiter abgelehnt werden. Dabei sind es gerade diese Gruppen von Genossinnen und Genossen, die sich gleichzeitig in einem Kampf gegen die russische Aggression und gegen ihre eigene Regierung befinden. Die pazifistische Position heißt hier, die Augen vor der Realität zu verschließen, insbesondere vor der Lage der Bevölkerung in den Gebieten, die von der russischen Armee besetzt sind, die bereitwillig auf Folter und Vergewaltigung als Mittel der Aggression zurückgreift. Eine solche pazifistische Position bleibt somit abstrakt und undialektisch. Sie gibt den Kampf auf und bietet keinen wirklichen Friedensweg an, der nicht gleichbedeutend wäre mit der internationalen Anerkennung der jüngsten territorialen Eroberungen Russlands, und das heißt der Ratifizierung einer Aufteilung der Ukraine zwischen russischer und westlicher Einflusssphäre. Dabei wird der politische Verhandlungsprozess losgelöst von den bestehenden Kräfteverhältnissen gedacht.
Zum Abschluss möchte ich über die Delegation des „Europäischen Netzwerks für Solidarität mit der Ukraine und gegen den Krieg“ sprechen, die auf Einladung von Sotsialnyi Rukh („Soziale Bewegung“) vom dritten bis zum achten Mai nach Lwiw gereist ist. Das Netzwerk hat sich spontan auf Initiative einiger Genoss_innen unmittelbar nach der Invasion gebildet. Es versammelt heute Vertreter_innen von zahlreichen Kollektiven, politischen Organisationen und linken Gewerkschaften: So zum Beispiel NPA („Neue Antikapitalistische Partei“), die Bewegung Ensemble!, den Gewerkschaftsbund Solidaire, Copernic und Peps aus Frankreich; Ensemble à Gauche aus der Schweiz, Razem aus Polen, die Rot-Grünen aus Dänemark, die Gewerkschaft UNISON aus Großbritannien, und viele mehr. Die Besonderheit des Netzwerks hinsichtlich seiner Positionierung zum Krieg besteht darin,dass es von dem Grundsatz ausgeht, dass internationale Solidarität von unten aufgebaut werden muss, im Dialog mit ukrainischen Organisationen und Gewerkschaften, deren Perspektive im Vordergrund stehen soll. Deshalb sind wir der Einladung von Sotsialnyi Rukh gefolgt, die ein zwei-tägiges Treffen mit verschiedenen unabhängigen Gewerkschaften, feministischen, antirassistischen und antifaschistischen Gruppen in Lwiw organisiert haben.
Sotsialnyi Rukh ist eine Organisation der ukrainischen radikalen Linken, die 2015 gegründet wurde und die für antikapitalistische, antirassistische, feministische und öko-sozialistische Anliegen eintritt. Das heißt sie entstand kurz nach den Ereignissen von 2013/2014, sprich dem Maidan-Aufstand, der darauf folgenden Annexion der Krim und dem Krieg im Donbass. Unter den Aktivist_innen von Sotsialnyi Rukh finden sich Menschen aus marxistischen Organisationen, aus der Studierendenbewegung der späten 2000er und frühen 2010er Jahre, aus unabhängigen Gewerkschaften und aus feministischen Kontexten. Sie sind Teil einer radikalen Linken, die seinerzeit in einem kritisch-unterstützenden Verhältnis zum Maidan stand, und in den unteren Klassen, die sich an den Protesten gegen den Oligarchen- und Polizeistaat beteiligt haben, ein Verlangen nach Gerechtigkeit ausgemacht hat: Gerechtigkeit im Sinne der Einhaltung des Gesetzes durch die herrschenden Klassen, durch die, die das Gesetz selber machen; aber auch im Sinne von sozialer Gerechtigkeit. Sotsialnyi Rukh kämpft für eine Demokratisierung von Politik und Arbeit, die in letzter Instanz die gesellschaftliche Kontrolle und Steuerung der Produktion sowie Arbeiter_innenkontrolle auf lokaler Ebene bedeuten würde.
Aus den verschiedenen Beiträgen und Diskussionen, die wir während dieser zwei Tage verfolgen und führen konnten, lässt sich insgesamt zunächst einmal eine weitgehende Einigkeit unter unseren ukrainischen Genoss_innen feststellen, was die Analyse vom Wesen dieses Krieges betrifft. Für sie alle handelt es sich um eine Aggression, die durch die imperialistischen Ansprüche Russlands befeuert wird; eine nicht-provozierte, absolut unbegründete Aggression. Das Recht der ukrainischen Bevölkerung auf Selbstverteidigung muss als bedingungslos betrachtet werden. Wenn es eine Kritik am Westen gibt, die geäußert wurde, dann die, dass die diplomatische, wirtschaftliche und militärische Unterstützung, die gegeben wird, unzureichend ist. Alle Menschen, die wir getroffen haben, beteiligen sich am bewaffneten Widerstand, entweder direkt oder indirekt. Direkt insofern, als Mitglieder der meisten Organisationen bereits aktiv an den Kämpfen teilnehmen. Indirekt, indem ihre Genoss_innen zumeist in Kampagnen engagiert sind, die Geld für die Armee sammeln. Diese Kampagnen werden unter anderem von Kollektiven organisiert, denen man kaum eine Sympathie für Militarismus unterstellen kann. Die Mitglieder der in Lwiw ansässigen Initiative "Queer Lab" etwa spenden derzeit 50% ihres Einkommens an die Armee.
In den letzten Monaten konnte man immer wieder erschrockene Beiträge über die "Flut von NATO-Waffen", "endlose Schlangen von LKWs, die Munition transportieren" usw. lesen. Vor Ort stellt sich die Situation jedoch ganz anders dar. Den Kämpfer_innen der regulären Armee, aber vor allem den Freiwilligen in den territorialen Verteidigungskräften fehlt es praktisch an allem: an Helmen, schutzsicheren Westen, an Nachtsichtgeräten, Medikamenten und so weiter. All diese Dinge versuchen zum Beispiel die Gewerkschaften selbst zu beschaffen, um ihre Kolleg_innen, die an die Front gehen, auszurüsten. Ebenso haben sich mehrere Dutzend Genoss_innen zu der Initiative zusammengeschlossen, die sich jetzt Solidarity Collectives nennt, um der antifaschistischen Kampftruppe, die sich gebildet hat, materielle und logistische Unterstützung zu leisten.
All dies heißt jedoch nicht, dass es Illusionen über das Wesen der NATO gibt, die nach der Auflösung der Sowjetunion ihren Expansionskurs fortgesetzt und in der Tat in hohem Maße von dieser Auflösung profitiert hat. Aber die Analyse von zwischen-imperialistischen Rivalitäten darf uns nicht vergessen lassen, dass es sich hier auf einer anderen Ebene um einen imperialistischen Angriff Russlands auf eine ehemalige Semi-Kolonie handelt und dass der Widerstand, der heute in der Ukraine geleistet wird, ein wirklicher und autonomer Widerstand des Landes gegen die Invasoren ist. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass eine militärische Niederlage Russlands zwangsläufig die interventionistischen Bestrebungen der NATO stärken würde. Im Gegenteil, ein Sieg des imperialistischen Russlands in der Ukraine könnte das Wettrüsten und die zunehmende Militarisierung unserer Gesellschaften befeuern, die weltweite geopolitische Instabilität verschärfen und zu weiteren Angriffskriegen führen.
Darüber hinaus muss auch gesehen werden, dass die Einigkeit im Widerstand gegen die Invasoren die Klassenkonflikte in der Ukraine keineswegs zum Verschwinden gebracht hat. Die Vertreter_innen der Gewerkschaften der Arbeiter und vor allem Arbeiterinnen im Gesundheitswesen etwa haben eine äußerst kritische Bilanz der neoliberalen Politik der letzten Jahre gezogen, die den Gesundheitssektor zuerst in der Pandemie und jetzt im Krieg völlig unvorbereitet und mittellos da stehen lassen hat. Zudem hat die ukrainische Regierung Ende März ein neues Gesetz "Über die Organisation der Arbeitsverhältnisse im Kriegszustand" verabschiedet, das eine Reihe von Ausnahmen vom Arbeitsrecht vorsieht: Vereinfachung von befristeten Verträgen, Option zur Versetzung an einen anderen Arbeitsort ohne Zustimmung des Arbeitnehmers, Möglichkeit zur erheblichen Änderung der Arbeitsbedingungen auch ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist und vieles mehr. Noch schlimmer ist, dass das Ministerkabinett für die Dauer des Konflikts ein Moratorium für die Arbeitsinspektion verhängt hat. Das bedeutet konkret, dass die Beschäftigten ihre Arbeitsbedingungen, Lohnkürzungen und -verzögerungen sowie ungerechtfertigte Entlassungen nicht anfechten können.
Trotz all dem herrscht unter den ukrainischen Genoss_innen ganz klar die Auffassung, dass es der von Putin geführte Krieg ist, der ein Vorankommen der Arbeitskämpfe in all diesen Problemen erschwert. Neben der Tatsache, dass man zunächst einmal am Leben sein muss, um zu kämpfen, haben sowohl Gewerkschafterinnen als auch feministische Aktivistinnen die krassen Unterschiede zwischen der Ukraine und den besetzten Gebieten betont, was die Aussichten und Chancen sozialer Kämpfe betrifft. Die russische Besatzung und die von ihr praktizierte Repression bedeutet konkret das Ende von unabhängigen Gewerkschaften, der feministischen und der LGBT-Bewegung und insgesamt das Aus für alle sozialen und politischen Protestbewegungen.
Aus diesem Grund sehen sich feministische Kollektive dazu gezwungen, ebenfalls den bewaffneten Kampf zu unterstützen – wenngleich sie in ihrer grundsätzlichen Kritik an Militarisierung, die mit Austeritätspolitik, der Verschärfung von geschlechtsspezifischen Ungleichheiten und einem Anstieg von Gewalt gegen Frauen einhergeht, sehr entschieden sind. Die Aktivitäten dieser feministischen Kollektive sind derzeit vor allem humanitärer Art. Sie arbeiten etwa daran, vom Krieg betroffenen Frauen eine Unterkunft, Kinderbetreuung und materielle Hilfe zu geben. Doch Frauen sind nicht bloße Opfer des Krieges: Sie organisieren sich und beteiligen sich aktiv am Widerstand, sowohl an der Front als auch im Hintergrund. Und nach der Auffassung der ukrainischen Feministinnen muss es wieder zum Grundprinzip jeder internationalistischen Bewegung gegen den Krieg werden, dass die Betroffenen selbst ihre Stimme erheben.