Bernd Gehrke
Über den russischen Neo-Imperialismus*
Für Boris Romanchenko1
Eine solche Blamage linker Positionen gab es selten: Mit dem Aggressionskrieg Russlands gegen die unabhängige Ukraine wurde die noch kurz zuvor von vielen und prominenten Linken geäußerte Einschätzung ad absurdum geführt, dass, trotz des militärischen Säbelrasselns an den Grenzen der Ukraine, von Russland keinerlei Kriegsgefahr ausgehe.
Die wichtigsten Akteure der deutschen Friedensbewegung haben ihren Irrtum öffentlich eingeräumt, eine faire Diskussion mit ihnen ist deshalb möglich. Doch darüber, was die Gründe für diese fundamentale Fehleinschätzung waren, ist bisher kaum diskutiert worden.
Eine der wohl wichtigsten Ursachen für die Fehleinschätzung ist die mangelnde Beschäftigung mit dem aggressiven Charakter des russischen Gegenwartskapitalismus. Diese Beschäftigung ist jedoch nicht nur wegen des aktuellen Krieges gegen die Ukraine und der erneut sichtbar gewordenen Gefahr eines Atomkrieges notwendig. Denn die vorhergegangene Zerschlagung der politischen Opposition in Russland und die zunehmende Repression des Putin-Regimes während des Krieges, birgt die Gefahr, dass sich das Regime von der bisherigen autoritären Präsidialherrschaft zum offen totalitär-faschistischen Regime entwickelt, wie der russische Soziologe Greg Yudin jüngst feststellte.2 So ist in der Flut von Kriegsmeldungen fast völlig untergegangen, dass Sicherheitskräfte stundenlang die Räume der Ende 2021 verbotenen Menschenrechtsorganisation Memorial in Moskau kurz nach Kriegsbeginn besetzten und zahlreiche Unterlagen und Computer beschlagnahmten. Angesichts des Krieges in der Ukraine und der zahlreichen Verbrechen gegenüber der russischen Zivilgesellschaft, scheint dieser Vorgang fast harmlos. Doch macht dieser Vorgang wie schon das Verbot von Memorial selbst deutlich, dass hier ein Angriff auf jegliche Voraussetzung von gesellschaftlicher Selbstorganisation erfolgt: auf die Diskussion eigenständiger Geschichts- und Gesellschaftserzählungen zugunsten einer totalitären Herrschaftsideologie.
Zugleich aber stellt die gleichsam ausweglose ökonomische Situation, in die der Überfall auf die Ukraine den russischen Kapitalismus gebracht hat, eine erhebliche Gefahr nicht nur für die russische Opposition dar. Eine Radikalisierung und zunehmende Gewalttätigkeit des Putin-Regimes nach innen und außen sind zu befürchten. Dabei sind die bisher schon verkündeten außenpolitischen Ziele Russlands bedrohlich genug für seine Nachbarn und für Europa insgesamt.
Miniaturen des russischen Wildost-Kapitalismus
Heute verkörpert das Putin-Regime nicht nur ganz offen die erzreaktionäre Ideologie der globalen Neuen Rechten in Kultur- und Innenpolitik, heute liegt auch die brutale Realität eines autoritär-repressiven und neoliberalen Wildost-Kapitalismus mit all seinen Hässlichkeiten klar vor aller Augen. Die innere Verfasstheit Russlands sollte eine Täuschung über den Charakter russischer Aussenpolitik unmöglich machen. Sollte, wäre da nicht das Wegschauen vieler Linker.
So diskutieren die deutschen Linken kaum über den Charakter des russischen Wildost-Kapitalismus, dessen Brutalität sich wenig von dem des Wildwest-Kapitalismus etwa in den Schwellenländern des Südens unterscheidet. Das Lebensniveau der Lohnarbeitenden ist weitaus geringer als im Westen und zeigt, dass Russland immer noch ein Land der Zweiten Welt ist. Zudem ist es ein Land mit einem extremen Gegensatz von Armut und Reichtum, wobei jener kleinen Schicht von ein Prozent Superreichen eine riesige Welt der Armen gegenübersteht. Die sogenannte Mittelschicht umfasst dagegen maximal zehn Prozent der Bevölkerung. Eine der ersten Maßnahmen nach Putins Amtsantritt als Präsident war die Einführung einer neoliberalen Flattax von nur 13 Prozent auf die Einkommen und die Durchführung verschiedener Deregulierungs- und Privatisierungsmaßnahmen.
Zum täglichen Existenzkampf in den Großstädten mit ihren massenhaften prekären Jobs, die ebenso wie die Baustellen des Landes von den migrantischen Billiglöhner:innen aus dem russischen Hinterhof in Mittelasien gefüllt werden, gehört der Druck auf kämpferische Gewerkschaften durch die Phalanx von Staat und Kapital. Für diese dramatische Situation der arbeitenden Klassen in Russland, die der Situation in anderen Schwellenländern ähnelt, haben sich Linke bisher wenig interessiert; ebenso wenig für das Landgrabbing und den in riesiger Dimension betriebenen Raubbau an der Natur, der von Gewaltaktionen und Todesdrohungen gegen Öko-Aktivist:innen und sich wehrende Kleinbäuer:innen begleitet wird. Es gibt mit der „Alternative“ sogar eine kleine Gewerkschaft, deren Ziel die Befreiung von Menschen aus privater Sklavenhaltung ist.
Der Korruptionssumpf von politischer Macht, Polizei, Justiz und Kapital bei der Ausbeutung von Mensch und dem Raubbau an der Natur macht nicht nur den kleptokratischen Charakter der Verbindung von autoritärem Staatsapparat und realem Wildost-Kapitalismus deutlich. Er erklärt auch die vielen Morde an investigativen Journalist:innen. Staatliche Schutzgesetze für Mensch und Natur, so sie vorhanden sind, sind zumeist nur wohlfeiles Beiwerk für die oft unmittelbar gewaltförmige Durchsetzung von Kapitalinteressen.
Das Beispiel VW und der Klassenkampf von oben
Westliche Multis wie Coca Cola und VW verhalten sich in Russland nicht anders als etwa in Mexiko. So legte 2019 das VW-Management in den Verhandlungen mit zwei Betriebsgewerkschaften einen Lohnabschluss unterhalb der Inflationsrate vor. Als eine der beiden Gewerkschaften, die zur unabhängigen Konföderation der Arbeit (KTR)3 gehörende MPRA, die 38 Prozent der Belegschaft in der Tarifkommission vertreten hatte, mit einer Unterschriftensammlung in der Belegschaft deren Meinung einzuholen begann, wurde diese vom VW-Management auf dem Werksgelände verboten. Als die Unterschriftensammlung vor dem Betriebstor fortgesetzt wurde, beschuldigte VW die Gewerkschafter:innen des „Terrorismus“ und rief die Polizei. Das regionale Arbeitsministerium verbot danach in Absprache mit dem Gouverneur gegen bestehende gesetzliche Rechte der Gewerkschaften die Unterschriftenaktion.4 Diese Praxis der Kumpanei des deutschen Vorzeige-Konzerns mit autoritären Regimen kennen wir seit langem, Brasilien oder Apartheid-Südafrika seien exemplarisch genannt.
Dieser Vorfall wurde zu einer Art Auftakt eines Großangriffs des russischen Staates und des hinter ihm stehenden Kapitals auf die Selbstbestimmungsrechte der abhängig Beschäftigten und der Gewerkschaften im folgenden Jahr. Am 23. Mai 2020 beschloss die Staatsduma die Abschaffung des bisherigen Arbeitsgesetzes. Darin war die autonome Aushandlung der Arbeitsbeziehungen durch Unternehmen und Gewerkschaften verankert. An deren Stelle trat nunmehr ein „in der Welt einzigartiges Gesetz“, wie Oleg Shein, der Vizevorsitzende der KTR, schrieb. In dieser Neufassung werden jetzt die Arbeitsbeziehungen „durch staatliche Vorschriften geregelt“ und im Falle eines „Konflikts zwischen dem Arbeitsgesetzbuch und Regierungsbeschlüssen“ hat nunmehr „die Entscheidung der Regierung Vorrang“.5
Kämpferische Gewerkschafter:innen, die sich internationalistisch-solidarisch betätigen, sind zudem durch das Gesetz über „ausländische Agenten“ immer stärker bedroht, das auch gegen Memorial und andere Menschenrechtsgruppen angewandt wurde.6
Nomenklatura-Kapitalismus
Um das Agieren des Putin-Regimes zu verstehen, gilt es, sich die Genesis des heutigen russischen Kapitalismus zu vergegenwärtigen und an seine Entstehung aus der despotisch geprägten ehemals herrschenden „kommunistischen“ Nomenklatura zu erinnern. Nach dem gescheiterten Putsch der sowjetischen Sicherheitsapparate im August 1991 leitete Präsident Boris Jelzin eine Schockstrategie der Liberalisierung und der Hauruck-Privatisierung des sowjetischen Staatseigentums ein. Das erklärte Ziel war die rasche Schaffung einer privaten „Eigentümerklasse“, um so die Unumkehrbarkeit des kapitalistischen Weges in Russland zu sichern. Die Folge dieser Politik war eine dramatische Vertiefung der schon vorhandenen Sozial- und Wirtschaftskrise mit katastrophalen Folgen für das Leben der meisten Bürger:innen Russlands. Die durchschnittliche Lebenserwartung bei Männern sank auf 63,7 Jahre, in Moskau durchwühlten Rentner:innen die Mülltonnen nach Essbarem, im Zuge der Privatisierung wohnungslos gewordene Menschen zelteten auf dem Roten Platz, Löhne wurden monatelang nicht ausgezahlt und Bergarbeiter:innen streikten für ein Stück Seife.
Die Privatisierung des Staatseigentums verlief weitgehend auf kriminellen Wegen. Durch Tricks, Betrug, Korruption und Gewalt gelangten Betriebe und Banken sehr schnell „in die Taschen“ ehemaliger „roter Direktoren“ und anderer Angehöriger der „kommunistischen“ Nomenklatura. In kürzester Zeit entstanden Milliarden-Vermögen in diesen „Gründerjahren“ der Oligarchen-Macht. Mafiosi halfen dabei ebenso fleißig wie entlassene KGB-, Armee- und Polizeiangehörige. So entstand ein korruptes und kriminelles Netzwerk von ehemaligen Direktoren, Sicherheitsleuten und Mafiosi, die mit blutigen Methoden die weitere Umverteilung des ehemaligen Staatseigentums in den 1990er Jahren betrieben. Die 1990er Jahre in Russland glichen den Mafia-Auseinandersetzungen im Chicago der 1930er Jahre, wie anhand vieler Beispiele, etwa in den Büchern der ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja, nachgelesen werden kann. Schnell war der treffende Begriff für das entstandene System gefunden: „Nomenklatura-Kapitalismus“, ein Kapitalismus, der aus der Aufteilung des vorherigen Staatseigentums unter die ehemalige „kommunistische“ Nomenklatura, entstanden war.7
Zaren, Stalin, Putin
Es ist schon verblüffend, wenn einige Linke den von der globalen extremen Rechten bewunderten Wladimir Putin als armes Opfer des Westens ansehen, jenen Putin, der nach Steve Bannon und seinen rechtsradikalen US-Compagnons nicht „woke“ sei und „die Eier habe“, sich mit dem dekadenten Westen anzulegen. Anscheinend sind Putin verteidigende Linke Gefangene eigener Symbolpolitik, da das Putin-Regime sowjetische Symbole des Sieges über Hitlerdeutschland oder der Entnazifizierung verwendet, zumal jetzt im Krieg gegen die Ukraine. Das scheint ins linke Weltbild zu passen. Doch wird dabei übersehen, dass die Flaggen der sowjetischen Kriegsmarine gern auch an den Masten russischer Milliardärs-Yachten flattern und dass das Putin-Regime neben sowjetischen Symbolen vor allem auch jene des Zarismus verwendet. Wer mit nüchternem Blick hinschaut kann feststellen, dass das nomenklatura-kapitalistische und autoritär-nationalistische Putin-Regime alle Symbole verwendet, die von der „Größe Russlands“ künden. Dabei gilt die Sowjetunion offen und umstandslos als das, was sie unter Stalin geworden war: Eine spezifische Variante des Großrussischen Reiches. Eben deshalb auch hasst Putin so entschieden Lenin, der die Sowjetunion gerade nicht als Fortsetzung des russischen Reiches verstand, sondern als Zusammenschluss von Sowjet-Republiken, die auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker beruhten.
Doch wie geht die Nutzung sowjetischer Symboliken mit der reaktionär-nationalistischen Praxis der Gegenwart zusammen? Seit 2012 und besonders seit dem 100. Jahrestag der Oktoberrevolution 2017 ist es dem Regime gelungen, eine Geschichtsideologie zu schaffen, in deren Zentrum die Erzählung vom positiven Wesen eines großrussisch-autoritären Staates steht. In ihr wird eine Entwicklung von den Zaren über Stalin bis zu Putin konstruiert. Lenin ist aus der Erinnerung weitgehend getilgt, es sei denn, er muss als der Schuldige am Untergang des sowjetrussischen Staates 1989 bis 1991 herhalten. Die Zeiten der Großen Russländischen Revolution gelten als Zeiten von Wirren, in denen sowohl Rote wie Weiße das Beste für Russland wollten und die schließlich den Aufstieg des starken stalinistischen Staates in der Nachfolge des Zarenreiches hervorbrachten. Hier hatte Russland seine größte Ausdehnung und seine Geltung als Weltmacht erreicht. Auf diese nationalistische Weise lassen sich im Volk tradierte Symbole und Kulte des Sowjetstaates als jene des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg mit den Symbolen des Zarismus zu einer reaktionären Melange von der Größe Russlands verrühren. Der Feiertag des 9. Mai steht deshalb heute nicht sosehr als Symbol der Erinnerung an die Opfer Russlands beim Sieg über Hitlerdeutschland und für ein „Nie wieder Krieg!“, sondern für die heutige Stärke Russlands und die Möglichkeit, den Marsch nach Berlin im Kampf gegen den Westen wiederholen zu können.
Da ist es kein Wunder, dass die Zensurbehörde selbst Jewtuschenkos Lied „Meinst du, die Russen wollen Krieg?“ inzwischen als staatsgefährdenden Treibsatz erkannt und verboten haben.8
Mit Rücksicht auf den Konservatismus der Massen dürfen – entgegen mancher reaktionärer Forderungen – dank Putin sogar die Statuen des „Popenmörders“ Lenin einstweilen stehen bleiben. Anknüpfend an Ideen vom Russländischen Eurasien und andere erzreaktionäre Strömungen ist diese Ideologie „antiwestlich-antiliberal“ und ethisch konservativ. Sie meint eben „Russland, aber normal“, um einen Wahlslogan der AfD zu modifizieren. Doch nach außen paart sich diese Ideologie mit einem Glauben an die anti-dekadente Mission Russlands und dem Wunsch nach einer Revanche für den Untergang der einstigen russischen Weltmacht namens Sowjetunion. Das von Wut verzerrte Gesicht Putins, als er von den Drogenabhängigen in der ukrainische Regierung sprach, war ein ebenso echter Ausdruck dieser Ideologie, wie die Verkündung des Patriarchen von Moskau, Kyrill, dass der Kampf Russlands in der Ukraine gerecht sei, weil er sich gegen die dort existierende Herrschaft von Homosexuellen richte.
Der vielsagende Anfang von Putins politischer Karriere
Über diese reaktionäre Ideologie kann nur verwundert sein, wer die kriminell-kapitalistische Wendung der autoritären „kommunistischen“ Nomenklatura außer Acht lässt, die bereits am Beginn der Rekapitalisierung des ex-sowjetischen Staatseigentums diktatorische Züge hervorbrachte.
Als Ende 1993 der Weg Russlands in den Kapitalismus durch Jelzins Einsatz von Panzern gegen den demokratisch gewählten Volksdeputiertenkongress Russlands politisch gesichert erschien, begab sich eine Delegation führender deutscher Manager nach Russland, um Investitionsbedingungen auszuloten. Bei einem Treffen mit dem für die Pflege ausländischer Investoren zuständigen damaligen Vizebürgermeister von St. Petersburg, Wladimir Putin, kam es zu einem bemerkenswerten Gespräch, das nicht nur über die damaligen Herrschenden in Russland, über Putins Denkweise schon am Beginn seiner politischen Karriere, sondern auch über die deutschen Manager Charakteristisches aussagt. Als die beim Treffen anwesende Kamera ausgeschaltet war, fragte ein deutscher Generalmanager Herrn Putin, ob eine Militärdiktatur nach chilenischem Vorbild in Russland nicht nur in Kreisen des Militärs erwogen werde. Herr Putin antwortete sehr eindeutig: „Wenn Sie so fragen … Ich befürworte eine Pinochet-Diktatur in Russland“.
Die Zeitung Neues Deutschland ergänzte Ende des Jahres 1993 auf Grundlage einer wenige Tage später ausgestrahlten WDR-Dokumentation die Ausführungen des Vizebürgermeisters so: „Dabei unterschied Putin zwischen ‚notwendiger‘ und ‚krimineller‘ Gewalt. Kriminell sei politische Gewalt, wenn sie auf die Beseitigung marktwirtschaftlicher Verhältnisse abziele, „notwendig“, wenn sie private Kapitalinvestitionen befördere oder schütze. Er, Putin, billige angesichts des schwierigen privatwirtschaftlichen Weges eventuelle Vorbereitungen Jelzins und des Militärs zur Herbeiführung einer Diktatur nach Pinochet-Vorbild ausdrücklich. Putins Ausführungen wurden sowohl von den deutschen Firmenvertretern als auch von dem anwesenden stellvertretenden deutschen Generalkonsul mit freundlichem Beifall aufgenommen.“9 Die Antwort scheint den deutschen Herren gefallen zu haben, denn alle, alle kamen und investierten in Russland, Siemens, VW, Daimler, die Chemie und viele mehr.
Putin und die Oligarchie
Als Vizebürgermeister organisierte Putin recht erfolgreich korruptionsbasierte Deals zwischen alten Wirtschaftskadern, Westmanager:innen oder Mafiosi mit Politiker:innen, so konnte ein „erfolgreiches“ Mittagessen mit dem Bürgermeister Sobtschak schon mal über 100.000 US-Dollar kosten. Jedenfalls war die wirtschaftliche Situation der Stadt St. Petersburg wesentlich günstiger als im übrigen Land, weshalb Putin vom Stab Jelzins nach Moskau geholt und nach einem Intermezzo als FSB-Chef bald Ministerpräsident Russlands wurde.
Die Oligarchen, deren Wahlkampagne Jelzin 1996 seine Wiederwahl und eine zweite Amtszeit verdankte, bestimmten ungeniert die Politik des Kreml. Zur Sicherung ihrer Macht und ihrer Vermögen organisierten sie auch die Nachfolge Jelzins im Präsidentenamt, wenn dieser nach zwei Wahlperioden im Jahr 2000 ausscheiden müsse. So übergab Jelzin sein Amt bereits vor Ablauf der Wahlperiode an den als „Reformer“ und Mann der Oligarchen geltenden Putin. Sofort begann die systematische Inszenierung Putins zum Bären reitenden und Drachen tötenden Superhelden. Einen – vermutlich geheimdienstlich inszenierten – Terroranschlag in Moskau benutzte Putin zur Eröffnung des zweiten Tschetschenienkrieges. Hierdurch demonstrierte er neue Stärke und die Wiederherstellung der „Ehre“ Russlands, was ihm große Zustimmung bei der 2000er Wahl zum Präsidenten einbrachte.
Eine ebenso große Zustimmung bei der Bevölkerung erhielt er, als Putin sich mit denen anlegte, die ihn an die Macht gebracht hatten, den Oligarchen. Er garantierte ihnen zwar das zusammengestohlene Vermögen, doch nur, wenn sie sich nicht in die Politik einmischten. Exemplarisch wurde das an der Entmachtung und Bestrafung des damals reichsten Mannes in Russland vorgeführt, Michail Chodorkowski. Nachdem dieser sich vor laufenden Fernsehkameras mit dem Präsidenten wegen der Korruption im Staatsapparat anlegte und in Opposition zum Präsidenten ging, wurde er 2003 verhaftet und 2005 zu acht Jahren Haft verurteilt. Der Vorwurf lautete auf schweren Betrug und Steuerhinterziehung mit einem Schaden von über einer Milliarde US-Dollar für den russischen Staat. Sein Öl-Konzern Yukos wurde unter Staatskonzernen aufgeteilt.
Doch im Hintergrund dieser Auseinandersetzung gab es auch einen wirtschaftspolitischen Konflikt, denn Putin beabsichtigte, die Öl- und Gaswirtschaft als für Russland wirtschaftlich und politisch strategisch wichtigen Zweig wieder in staatlichen Besitz zu bringen.
Neben der in der kriminellen Privatisierung der 1990er Jahre wurzelnden Oligarchie hat die Herrschaft des autoritären Präsidialsystems noch ein weiteres Phänomen hervorgebracht. Mit Putin übernahmen die Kader des ehemaligen KGB die Kontrolle über die Oligarchie und brachten aus ihren Reihen nunmehr eigene Oligarchen hervor. Oft waren es alte Spezis und Vertraute des Präsidenten, die ihm ihren neuen Reichtum verdanken. So schuf Putin faktisch eine neue „Staats-Oligarchie“ neben und über der Jelzinschen „Privat-Oligarchie“. Sie besetzt die wichtigsten Schaltstellen von Staatsapparat, Staatskonzernen und Wirtschaftskontrolle und bildet auf diese Weise ein enges Netzwerk von Politik und strategisch wichtigen Wirtschaftsbereichen. Durch ihre Funktionen haben ihre Angehörigen zugleich die Möglichkeit, in die eigene Tasche zu wirtschaften. Insofern bleibt sie erst recht „dem System Putin“ zur Loyalität verpflichtet.
Die Modernisierung der Wirtschaft scheitert am Putin-Regime
Die Art und Weise der engen Verzahnung von Politik und Wirtschaft hat für Russland nicht nur Folgen für die Entwicklung der Demokratie, sondern ebenso Folgen für die langfristige wirtschaftliche Entwicklung. Das Problem ist die politische Vermachtung zweier dominierender Wirtschaftsblöcke in einem gemeinsamen, von Geheimdienstleuten geprägten politischen Machtblock, in dessen Zentrum der Präsident steht. Das ist einerseits die alle anderen zivilen Wirtschaftszweige durch Größe und den hohen Grad der Monopolisierung übertreffende Öl- und Gas-, aber auch die Kohle erschließende und exportierende Industrie. Hinzu kommt der Militärisch-Industrielle Komplex (MIK). Die monopolistische Kapitalstärke beider Wirtschaftsmacht-Blöcke führt fast regelmäßig dazu, dass neben ihnen entstehende innovative Unternehmen entweder aufgekauft oder vom Markt gedrängt werden. Die Ein- und Unterordnung des großen intellektuellen Potenzials Russlands etwa im IT-Bereich unter die Bedürfnisse von Militär und Geheimdiensten ist ein beredtes Beispiel für die hierdurch bedingte langfristige Schwächung ziviler Sektoren und damit einer universellen Präsenz des Riesenlandes auf dem Weltmarkt.
Die Modernisierung der fossilen Industrie und des MIK zulasten der Vervielfältigung und Modernisierung der übrigen zivilen Wirtschaftsstruktur ist der machtstrukturell bedingte Hinkefuss der gesamten Wirtschaftsentwicklung in Russland. Das auf Öl und Gas beruhende, ökonomische Renten kleptokratisch verzehrende Machtgefüge des Putin-Regimes ist daher selbst die beste Garantie für das langfristige Hinterherhinken Russlands hinter seinen imperialistischen Konkurrent:innen. Stets extrem abhängig vom Öl- und Gaspreis auf dem Weltmarkt verkörpert es zudem in Zeiten der Klimaerhitzung auch in dieser Hinsicht innen- wie außenpolitisch extrem reaktionäre Interessen.
Erst die Wirtschaftssanktionen des Westens seit 2014 haben eine begrenzte Modernisierung anderer Zweige wie der Lebensmittelindustrie bewirkt. Zudem ist Russland heute mit einem Anteil von 20 Prozent einer der größten Weizenexporteure der Welt, was nichts an der Tatsache ändert, dass Russlands Exportstruktur weitgehend dem halbkolonialen Status eines Rohstoffe und Halbfabrikate exportierenden Landes entspricht. Seit dem Verfall der Öl- und Gaspreise ab 2008 stagnieren die Einkommen der Lohnabhängigen. Mit neuerlichen neoliberalen Angriffen auf Lohnabhängige und Rentner:innen wurde versucht, die Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen und die Sanierung des Haushalts voranzutreiben. Dank Ölpreiserhöhung der letzten drei Jahre konnte allerdings die Corona-Pandemie sozial abgefangen und die Kriegskasse gefüllt werden.
Gewalt statt Modernisierung
Der von Wladimir Putin und seinem Umfeld durchaus als Problem erkannte Widerspruch zwischen Russland als atomarer Supermacht und seinem ökonomischen Status auf dem Niveau Brasiliens hatte zu dem erklärten Ziel des Präsidenten geführt, dass Russland bis 2035 eine der fünf größten Wirtschaftsmächte der Welt werden soll. Stillschweigend musste dieses Ziel aber auf Eis gelegt werden. Neuere Prognosen vor dem Angriff auf die Ukraine besagen, dass Russlands Wirtschaft langfristig stagnieren und auch im Jahr 2035 sich etwa auf einem Platz wie heute bewegen wird. Doch bis zu diesem Zeitpunkt wird der Verbrauch fossiler Brennstoffe der wichtigsten sicheren Abnahmeländer in Europa drastisch zurückgegangen sein.
Wladimir Putin hat die Bedeutung des Zeitfaktors für den Konkurrenzkampf der Imperien begriffen. In einer Rede vor dem russischen Waldai-Diskussionsklub erklärte er 2021, dass in den nächsten Jahren darüber entschieden wird, wer in der Welt Zentrum und wer Peripherie ist. Seine Politik der letzten Jahre macht deutlich, dass er und sein Umfeld erkannt haben müssen, dass dieser Kampf nicht auf ökonomischem Feld zu gewinnen ist. Mit seiner rabiaten Unterdrückung jeglicher Opposition im Innern, mit seiner massiven Beihilfe zur Unterdrückung der Revolten in Weißrussland und in Kasachstan und seiner im Januar erfolgten Äußerung, dass Russland keine Revolution im postsowjetischen Raum dulden wird, hatte er die Bereitschaft zur Eskalation von Gewalt nach innen wie nach außen deutlich zum Ausdruck gebracht.
Ob die langfristige ökonomische Schwäche Russlands, für die der Charakter des Putin-Regimes selbst hauptverantwortlich ist, vor dem Hintergrund des Zeitfaktors den letzten, entscheidenden Auslöser für den Angriffskrieg auf die Ukraine bildete, kann nicht endgültig beantwortet werden. Dass sie aber zumindest einen wesentlichen Entscheidungshintergrund bildete und die Entscheidung für den Krieg stark befeuert haben dürfte, kann als ziemlich sicher angenommen werden. Denn wenn Russland auf Dauer keine ökonomische Großmacht werden kann, dann bleibt nur die Gewalt als Mittel, Großmacht zu sein. Aus der langfristigen ökonomischen Schwäche einerseits und dem großrussischen Weltmachtanspruch andererseits erklärt sich die zunehmende Aggressivität der Politik des Putin-Regimes.
Aber nicht allein! Der in der herrschenden Klasse Russlands und bei Putin selbst tief verankerte Glaube an eine historische Mission eines großrussischen Imperiums gegenüber dem „dekadenten Westen“ schließt immer auch die Ukraine ein. Nicht nur aus pseudo-historischen Gründen, sondern auch, weil bekanntlich Russland ohne Ukraine zwar ein großes Land ist, aber eben kein Imperium. Doch der imperiale Traum ist weitaus größer …
Die Behauptung Putins, dass die gewaltsame Annektion und Kolonialisierung der baltischen Länder durch die Sowjetunion im Gefolge des Hitler-Stalin-Pakts nach gültigem Völkerrecht geschah, lässt auch für alle anderen Völker des russisch-sowjetischen Völkergefängnisses, die sich wie Moldawa (das zaristisch und von Stalin geraubte rumänisch-sprachige Besarabien) oder Georgien 1991 von Rußland unabhängig machten, nichts Gutes ahnen. Zudem hatte der Adlatus Putins, Dmitri Medwedew, seinerzeit als Präsident verkündet, dass Russland überall dort das Recht hätte zu intervenieren, wo ethnische Russen leben. Und das betrifft alle ehemaligen Sowjetrepubliken, auch jene, die heute in EU und NATO Mitglieder sind.
Die im Dezember 2021 den USA und der NATO von Russland unterbreiteten Vertragsentwürfe, die die Rückabwicklung der NATO in Osteuropa verlangten, deuten mehr als deutlich darauf hin, dass Russland aber auch erneut eine Kontrolle über Länder des ehemaligen Warschauer Vertrages in Osteuropa anstrebt. Die revisionistischen Ambitionen des russischen Neo-Imperialismus haben das Potenzial für weitere Kriege. Sie sind aber auch Gründe für die angstgetriebene Flucht dieser Länder unter die Fittiche der USA und des Westens. Die begrenzten Möglichkeiten für das Putin-Regime, durch ökonomische oder gar kulturelle Hegemonie seine politischen Ziele im „nahen Ausland“ und in Osteuropa zu erreichen und seine Angst vor Massenbewegungen machen dieses Regime so aggressiv und gefährlich.
Es ist höchste Zeit für Linke im Westen, endlich die zutiefst reaktionäre und aggressive, für die Welt höchst gefährliche Entwicklung des Putin-Regimes zur Kenntnis zu nehmen. Gegenüber diesem Regime kann es für Linke keine Neutralität geben; was nicht heißt, bei der NATO anzuklopfen. Vor allem muss eine sozialistische Linke wieder zu einer eigenständigen politischen Kraft mit einem eigenen, auf die Gegenwart bezogenen Entwurf für eine neue Weltordnung werden.