Natalia Savelyeva
Wie die abtrünnigen Volksrepubliken in der Ostukraine durch die Eingliederung nach Russland alles verloren und nichts gewonnen haben
Im Februar 2022 hat Russland die «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk, zwei abtrünnige Regionen der Ostukraine, als unabhängige Staaten anerkannt. Als Expert*innen und die Öffentlichkeit noch rätselten, was das für die Zukunft der Regionen und der Ukraine insgesamt bedeuten könnte, begann die Invasion der russischen Armee in das ukrainische Hoheitsgebiet.
Präsident Putin und russische Staatsvertreterinnen rechtfertigten die Intervention mit acht Jahren Elend und dem «Genozid» an der Bevölkerung des Donbas. «Die Donbas-Menschen sollen in Frieden leben», so eine weit verbreitete Losung, die viele russische Bürgerinnen dazu veranlasste, die «militärische Spezialoperation» in der Ukraine gutzuheißen.
In den international nicht anerkannten „Volksrepubliken“ sah die Lage vor der russischen Invasion aber nicht nur wegen der angeblichen «ukrainischen Angriffe» düster aus. Nach acht Kriegsjahren ist eine der wohlhabendsten ukrainischen Regionen völlig verarmt, de facto in Russland eingegliedert und entukrainisiert worden. Zwar haben mehrere Faktoren zur aktuellen Situation beigetragen, darunter auch die ukrainische Politik in den rebellierenden Territorien, doch der russische Staat trägt die Hauptverantwortung dafür, dass den beiden Republiken nach Jahren der «Unterstützung» nur noch die von Russland bestimmte Zukunft offensteht.
Vom Wohlstand zum ökonomischen Abstieg
Als die Anti-Maidan-Proteste Anfang 2014 im Donbas immer mehr Zulauf erhielten, waren viele Beobachter*innen der Meinung, der Donbas sei für die ukrainische Wirtschaft eine Belastung. Russlandfreundliche Einwohner*innen, die sich gegen den Euromaidan stellten, waren der gegenteiligen Ansicht. «Der Donbas ernährt die Ukraine», lautete eines der gängigsten Argumente für eine stärkere Autonomie der Region.
Beides war falsch: Die Wirtschaftsleistung pro Kopf lag etwa im ukrainischen Durchschnitt. Der Donbas trug also sehr zur ukrainischen Volkswirtschaft bei. Die Kohlebergwerke, Stahlwerke, Kokereien, Chemiefabriken und Kohlekraftwerke erhielten aber auch umfassende direkte und indirekte Subventionen in Form von staatlichen Aufträgen, Preiskontrollen und nur geringen Strafen für Umweltverschmutzungen. Der Donbas trug netto also weder zum landesweiten Haushaltsausgleich bei noch erhielt er netto Zahlungen aus Kiew, die ökonomische Struktur vor dem Krieg sollte allerdings die Probleme der Volksrepubliken Donezk und Luhansk in den kommenden sieben Jahren verschärfen.
Vor 2014 war der Donbas trotz seines ökonomischen Abstiegs eine relativ wohlhabende Region. Die ökonomische Bedeutung lag immer noch in den traditionellen Bereichen des Bergbaus. Besonders stark wuchs allerdings der Dienstleistungssektor. Nach der Auflösung der Sowjetunion sank die Bedeutung der Donbas-Wirtschaft für die Ukraine immer mehr: 1996 machte sie noch 17,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus, 2013 waren es noch 14,5 Prozent. Die Gehälter und Löhne gehörten derweil zu den höchsten im Land. Beim verfügbaren Bruttoeinkommen landete die Provinz Donezk in den 2000er Jahren nach Kiew stets auf Platz zwei. Die Provinz Luhansk lag immer etwas dahinter. Das Einkommensniveau war im Donbas 6 Prozent höher als im Landesdurchschnitt. In der Provinz Donezk erhielten die Einwohner*innen sogar Einkommen, die etwa 12 Prozent über dem Durchschnitt lagen.
In den ersten vier Jahren des Konflikts fiel das BIP in Landeswährung zu konstanten Preisen auf 38,9 Prozent des Werts von 2013. In den Gegenden, die nicht unter Regierungskontrolle standen, sanken die Löhne enorm: Durchschnittlich lagen sie 2016 in der „Volksrepublik“ Donezk (DNR) bei 38 Prozent des Vorkriegsniveaus, in Luhansk (LNR) sogar nur bei 34 Prozent. Damit betrugen sie nur halb so viel wie in den Territorien derselben Region, die unter der Kontrolle des ukrainischen Staats standen. Damit ging ein dramatischer Rückgang der Nachfrage nach Verbrauchsgütern einher: Der gesamte Einzelhandelsabsatz in der Region belief sich 2017 auf 38,6 bis 44,8 Prozent des Niveaus von 2013.
Im Jahr 2017 wurden alle noch erlaubten Wirtschaftsbeziehungen zwischen den abtrünnigen Territorien und den ukrainisch kontrollierten Gebieten beendet: Die Ukraine verhängte eine «Wirtschaftsblockade», und die „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk reagierten mit der «Nationalisierung» ukrainischer Unternehmen. Wegen des nun eintretenden Rohstoffmangels mussten die frisch enteigneten Stahlwerke ihre Produktion einstellen.
Am 4. Mai 2017 wies der russische Premierminister Dmitrij Medwedew die russische Bundesbehörde für Staatsreserven an, 10 Milliarden Rubel zur «Wiederaufstockung der für die Eisenhüttenindustrie erforderlichen Rohstoffe» bereitzustellen. «Nationalisierte» Vermögensgegenstände wurden dem Unternehmen ZAO VneshTorgServis übereignet, das in Südossetien gemeldet ist, einem anderen von Russland gestützten abtrünnigen Gebiet. Südossetien wurde zur Drehscheibe für Zahlungsabwicklungen, über die Geld aus dem Donbas nach Russland fließt und Waren zurückgeliefert werden konnten. Damit ließen sich unter anderem die Sanktionen der Europäischen Union und der USA umgehen, die Strafen für unmittelbare Geschäfte mit den separatistischen Gebieten vorsahen. Durch die «Nationalisierung» setzte sich der Abstieg jedoch nur fort. VneshTorgServis war von Lohnzahlungsrückständen und einer rasant steigenden Verschuldung geplagt. Das Unternehmen musste die volle Last der durch die Pandemie ausgelösten Rezession tragen. Die Steuer- und Abgabenbehörde der „Volksrepublik“ Donezk erklärte im Januar 2021, dass das Beteiligungsunternehmen im Jahr 2020 sein Exportvolumen um 45 Prozent reduziert und damit wesentlich zum Einbruch des Exports aus der DNR in den ersten elf Monaten des Jahres 2020 um 26,6 Prozent beigetragen hatte.
Insgesamt führte der Krieg zu einer schnellen, harten Deindustrialisierung. Die Industrieproduktion und der Außenhandel gingen deutlich zurück. 2020 produzierten die meisten Fabriken nur 15 bis 20 Prozent des Vorkriegsvolumens. Einige Fabriken wurden zerstört, andere ausgeschlachtet, ihre Maschinen entweder nach Russland gebracht oder zum Schrottwert verkauft. Viele können nicht wieder hochgefahren werden. Die größte Einzelhandelskette Amstor stellte 2017 den Betrieb ein, nachdem sich russische Konkurrenz angesiedelt hatte.
Volksproteste gegen „Volksrepubliken“
Für viele Städte in den besetzten Gebieten von Luhansk und Donezk bildete der Bergbau den einzigen Zweig, von dem die gesamte Wirtschaft abhing. Schon vor dem seit 2014 militärisch ausgetragenen Konflikt waren viele Bergwerke nicht profitabel. Die ukrainische Regierung subventionierte sie, um die sozialen Spannungen in den betroffenen Städten zu verringern. Anfang 2015 operierten die Bergwerke und Fabriken in den abtrünnigen Gebieten noch mit den Investitionen aus Friedenszeiten. Als diese verbraucht waren, hätte die selbsternannte «republikanische» Regierung sie subventionieren müssen. Das ist jedoch nicht geschehen. Die Produktionsanlagen waren abgewirtschaftet, die Arbeitsplatzsicherheit ließ nach, Gehälter sanken, und schließlich stieg die Arbeitslosigkeit.
Seit 2014 wurden im nicht von der Regierung kontrollierten Teil der Region Luhansk 22 Kohlebergwerke geschlossen, in der Region Donezk waren es 19. Damit sind 63 200 Arbeitsplätze verschwunden. Viele Dörfer und Städte verloren die Unternehmen, die für die Wirtschaft vor Ort zentral waren.
Stillgelegte Gruben wurden geflutet. So entstanden ernsthafte Gefahren für die Umwelt. Der Donbas ist zudem die am drittstärksten verminte Weltregion: Etwa 16 000 Quadratkilometer sind mit Landminen verseucht. Gleichzeitig wurde die unregulierte Kohleförderung im kleinen Maßstab faktisch legalisiert. Gemäß der Eastern Human Rights Group betragen die Gehälter im Vergleich zur Vorkriegszeit nur noch ein Zehntel. 2020 wurden mehr als 30 000 Arbeitsplätze zerstört, als die Volksrepubliken Kohlebergwerke zu schließen begannen, die früher der ukrainische Staat bewirtschaftet hatte. Nach offiziellen Unterlagen wurden Arbeiter*innen unprofitabler Bergwerke entlassen, ohne die ausstehenden Lohnzahlung aus den Jahren 2014 bis 2020 zu begleichen.
Schon seit 2015 kam es in den Territorien der Volksrepubliken immer wieder zu Arbeiter*innenprotesten. Der häufigste Grund für die Aufstände war die Nichtzahlung von Löhnen. Da jedoch alle unabhängigen Gewerkschaften 2014 verboten wurden und die «offiziellen» Verbände nicht die tatsächlichen Interessen der Arbeiter*innen vertraten, organisierten sich die Proteste allesamt in kleinen Gruppen und hatten keine einheitliche Ausrichtung. Bergleute veranstalteten zwischen 2015 und 2020 sechs der fünfzehn von der Eastern Human Rights Group beobachteten Proteste. Auch Beschäftigte im öffentlichen Nahverkehr und Fabrikarbeiter*innen protestierten. 2016 demonstrierten Unternehmer*innen in Luhansk gegen Steuererhöhungen.
Die schwersten Proteste fanden allerdings im Sommer 2020 statt. Bergleute von Nikanor-Novaya in der Region Luhansk organisierten den ersten radikalen Protest in der Geschichte des bewaffneten Konflikts. Ausgelöst wurde er durch die Ankündigung der russischen Besatzung, das Bergwerk schließen zu lassen, das die Stadt Sorynsk am Leben erhielt. Die Proteste dauerten sechs Tage und genossen breite Unterstützung in der örtlichen Bevölkerung. Die Arbeiter*innen wollten das Bergwerk erst verlassen, wenn sie die ausstehenden Löhne in Höhe von 2,87 Millionen US-Dollar erhalten hätten und sie in andere Bergwerke vermittelt worden seien.
Zu ähnlichen Protesten kam es später im Juni 2020 auch im Komsomolskaja-Bergwerk. Gewissermaßen waren beide Proteste erfolgreich: Immerhin wurden die Lohnforderungen erfüllt. Polizist*innen vor Ort verweigerten ihre Befehle, die Familienangehörigen der Protestierenden zu verhören, aber die Behörden der „Volksrepubliken“ reagierten heftiger. Am vierten Protesttag kappten sie den Mobilfunk und den High-Speed-Internetzugang. Sie sperrten die Zufahrtswege zur Stadt. 38 Menschen wurden festgenommen, drei davon sind nicht wieder aufgetaucht und gelten als verschollen. Die Behörden der Volksrepubliken verkündeten, dass die Proteste von ausländischen «Einflüssen» und «Spezialdiensten» gesteuert würden.
Trotz der Sanktionen wurde vermutlich viel Kohle aus den Volksrepubliken über Russland auf anderen Märkten verkauft, zum Profit der Zwischenhändler*innen. Eine Untersuchung ergab, dass die meiste Kohle in Indien, Belarus und der Ukraine landete, nachdem sie als russische Kohle klassifiziert wurde. Die Wirtschaft der DNR ähnelte einem Geldwäscheapparat: Während Russland seine Kassen füllte, um Pensionen und Gehälter im öffentlichen Dienst zu bezahlen, ging der meiste Umsatz örtlicher Unternehmen an private Individuen. «Sie nutzen die Bergwerke, exportieren Kohle und zahlen nichts dafür, sie zahlen lächerliche Gehälter. Das ist wie ein Privatunternehmen, das alle Rohstoffe aus dem Donbas holt wie aus einer Kolonie.» So beschrieb Journalist Denis Kazanskiy die Lage. Die Schulden von VneshTorgServis gegenüber dem Staatshaushalt der DNR beliefen sich im Oktober 2019 auf 400 Millionen US-Dollar. Nachdem jedoch 2021 alle wichtigen Fabriken in den beiden Republiken unter die Kontrolle des russischen Unternehmers Jewgeni Jurtschenko gestellt wurden, verbesserte sich die Lage ein wenig.
Wegen des ökonomischen Absturzes und der illegalen Praktiken, mit denen die Industrieanlagen und der Regionalhaushalt ausgebeutet werden, sind die „Volksrepubliken“ nun komplett von Russland abhängig. Seit die Ukraine 2017 die Belieferung der Territorien mit Waren und Strom stoppte, besteht in den nicht anerkannten Gebieten nur noch eine Wirtschaftspartnerschaft mit Russland. Außerdem sind die «Staatshaushalte» sehr von russischem Geld abhängig. Schon 2016–2017 kamen 90 Prozent der Mittel aus Russland. Die Tendenz hielt bis 2022 an.
Wie Russland, nur schlechter
Nachdem Viktor Janukowitsch im Februar 2014 außer Landes geflohen war, brachen die staatlichen Strukturen der Ukraine im Grunde zusammen. Als die Lokalbehörden der Regionen Donezk und Luhansk besetzt wurden, erlebten die nicht anerkannten Volksrepubliken eine kurze Phase der Unruhe. Währenddessen entstanden zahlreiche Graswurzelinitiativen, die die Bevölkerung repräsentieren wollten. Im Herbst 2014 traten allerdings quasistaatliche Strukturen an ihre Stelle, die im Einklang mit Moskau handelten.
Das politische System der „Volksrepubliken“ ähnelte dem russischen: Alle Parteien, Gewerkschaften und Organisationen wurden vollständig in den Staatsapparat integriert. Ungeplante politische Einmischungen waren nicht geduldet. Dieser Zustand zementierte sich wegen der vollständigen Abhängigkeit von Russland in militärischer und ökonomischer Hinsicht relativ schnell. Weite Teile der Bevölkerung, die an den Aufständen von 2014 teilgenommen hatten, wurden aus den Entscheidungsstrukturen verdrängt. Lokale Initiativen wurden aufgelöst. Selbsternannte Machthaber und nichtstaatliche bewaffnete Gruppen, die manche Gebiete in den ersten Monaten des Krieges kontrollierten, verloren ihre Macht. Wenig überraschend waren die hartnäckigsten Kritiker*innen des politischen Systems in den „Volksrepubliken“ jene, die sich 2014 aktiv an den Aufständen beteiligt hatten. Sie wurden umgebracht, mussten fliehen oder akzeptierten die neue Ordnung des Kremls.
In den acht Jahren des Bestehens der beiden selbsternannten Staaten kam es zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen. Einige ukrainische Gefängnisse sind in die neu geschaffenen Staatsstrukturen integriert worden. Schon 2016 berichteten Menschenrechtsorganisationen, dass sich 5000 Gefangene in Einzelhaft befanden und geschlagen, ausgehungert oder gefoltert wurden, wenn sie keine unbezahlte Arbeit verrichten wollten. Von Anfang an gehörten illegale Verhaftungen, Folter und Tötungen zum Leben in den „Volksrepubliken“ dazu. Aktiv beteiligten sich daran bewaffnete Gruppen, selbsternannte Machthaber, neue Milizen und Spezialsicherheitskräfte.
Wer sich proukrainisch äußerte, wurde verhaftet. Das bekannteste Beispiel ist Stanislav Aseyev, der mehr als zweieinhalb Jahre im Donezker Gefängnis Isolazija verbrachte, weil er Beobachtungen und Kommentare zum Leben in der DNR für ukrainische Medien verfasste. Im November 2019 wurde ein Unternehmer aus Luhansk festgenommen, weil er sich proukrainisch äußerte. Er wurde wegen «Hochverrats» zu 13,5 Jahren Haft verurteilt. Einzelne Telegram-Kanäle wurden im Sommer 2020 gesperrt, weil sie über die Proteste der Bergleute berichteten.
Im Juni 2020 wurde das Strafgesetzbuch der DNR um einen Paragrafen zur «Finanzierung extremistischer Aktivitäten» ergänzt. Darin steht, dass «die Unterstützung von Aktivitäten einer extremistischen Gruppe oder Organisation» mit bis zu acht Jahren Haft bestraft werde. Im April 2021 kam eine Vorschrift zur «strafrechtlichen Ahndung» von öffentlich und in sozialen Netzwerken geäußerten Verunglimpfungen hinzu. Damit waren Folgen wie Strafarbeit und Inhaftierung für bis zu zwei Jahre verbunden. Ähnliche Gesetzesänderungen wurden auch in der LNR umgesetzt. Viele Menschenrechtsaktivist*innen mussten die „Volksrepubliken“ nach 2014 verlassen, und wer blieb, lebte mit der Gefahr, von lokalen Milizen und Spezialdiensten misshandelt zu werden.
Beide „Volksrepubliken“ schafften 2020 die Amtssprache Ukrainisch ab. Seitdem unterrichten Schulen weder die ukrainische Sprache noch die ukrainische Geschichte. Vor 2020 gab es noch Unterricht in diesen Fächern, wenn auch eingeschränkt. Die ukrainische Sprache ist aus dem öffentlichen Raum verschwunden. Junge Menschen, die kurz vor dem Konflikt oder währenddessen geboren wurden, sind daher keine «Ukrainer*innen» mehr. Sie sprechen nicht Ukrainisch, kennen die ukrainische Geschichte nicht, und sie verstehen sich auch selbst nicht als Ukrainer*innen. Das Leben in der Ukraine kennen sie nicht oder können sich nicht daran erinnern. Gleichzeitig berichtete das Büro des Hochkommissars für Menschenrechte (OHCHR), dass Menschen verhaftet wurden, die sich nicht proukrainisch, sondern allein in ukrainischer Sprache äußerten. Am 10. April 2020 nahm die Geheimpolizei der DNR einen Mann fest, der angeblich ukrainische Lieder schrieb und sang, seine Unterstützung für die Ukraine zum Ausdruck brachte und die bewaffneten Gruppen in den sozialen Medien kritisierte.
Auch Unterstützer*innen der Volksrepubliken, die sich gegenüber den Maßnahmen und sozialen Bedingungen kritisch äußern, sind nicht vor Repressionen sicher. Im Dezember 2020 wurde der bekannte proseparatistische Blogger Roman Manekin verhaftet, weil er aufgrund seiner Kritik an den bewaffneten Gangs der DNR verdächtigt wurde, ein «ukrainischer Spion» zu sein. Im Januar 2020 wurde in Donezk ein Blogger und Mitglied der Öffentlichen Kammer (eines Beratungsgremiums der «Führung» der DNR in sozialen und humanitären Fragen) verhaftet, nachdem er die Lokalregierung wegen Korruption und bewaffnete Gruppen wegen der Festnahme von Personen ohne DNR-Pässe und DNR-Nummernschilder kritisiert hatte. Er wurde zu neun Monaten Gefängnis verurteilt.
Die Politik wird in den „Volksrepubliken“ komplett von Russland und Russlandanhänger*innen beherrscht. Nicht nur die Redefreiheit wird unterdrückt, sondern jeglicher politischer Wettstreit. Die Amtsträger*innen des separatistischen Donbas wurden nicht frei gewählt. Ihre faktisch bestehenden Regierungen gehen äußerst undurchsichtig vor. Dadurch ist schwer nachvollziehbar, wie autonom sie gegenüber der russischen Regierung tatsächlich sind.
Bei den letzten Wahlen im Jahr 2018 wurden die von Moskau genehmigten Regierungschefs – Denis Puschilin in der DNR und Leonid Passetschnik in der LNR – nahezu konkurrenzlos bestätigt, während nur regierungsnahe und scheinoppositionelle Parteien antreten durften. Wahllisten setzten sich aus Loyalist*innen zusammen, während die teilweise registrierten kommunistischen Parteien nicht einmal zur Wahl zugelassen wurden. Die einzige wirkliche Opposition der aktuellen Führung besteht aus einflussreichen ehemaligen Separatist*innen, aber die Herrschenden legen auch deren politischen Ambitionen Steine in den Weg: Die Republikanische Partei des Donbas, die von einem der Gründerväter der DNR und dem früheren Parlamentschef Andrei Purgin gegründet wurde, wurde nicht zur Wahl zugelassen. 2021 traten die Chefs der beiden Republiken öffentlich der größten und mächtigsten Partei Russlands bei: Einiges Russland.
Einigen Schätzungen zufolge leben auf den Gebieten der Volksrepubliken nur 45 bis 70 Prozent der ursprünglichen Bevölkerung, die 2014 bei über vier Millionen lag. 2019 erließ Wladimir Putin eine Anordnung, die ein vereinfachtes Verfahren zur Erlangung russischer Pässe für Einwohner*innen der Volksrepubliken ermöglichte. Im Januar 2022 verfügten schon mehr als 720 000 Einwohner*innen des Donbas über die russische Staatsangehörigkeit. Diese Leute gelten jetzt als «im Donbas lebende russische Bürger*innen», und das hat weitreichende Folgen. Unter anderem dürfen sie an Wahlen in Russland teilnehmen. In der Region Rostow wurden zusätzliche Wahllokale eingerichtet, damit die neuen Bürger*innen, die angeblich allesamt dem Präsidenten Wladimir Putin treu waren, an den letzten Wahlen zur russischen Staatsduma 2021 teilnehmen konnten. Die Regierungen der DNR und der LNR stellten 825 Busse und 12 Züge zur Verfügung, damit alle, die es wollten, wählen konnten. Einige Wähler*innen erhielten ihre russischen Pässe gleich vor den Wahllokalen.
Wie geht es weiter?
Beide „Volksrepubliken“ waren ab dem Moment, als Putin ihre Unabhängigkeit anerkannt und den Krieg gegen die Ukraine begonnen hatte, faktisch in die Russische Föderation integriert. Sie waren ökonomisch vollkommen abhängig und politisch absolut loyal.
Das politische System der abtrünnigen Republiken wurde sogar zum bitteren Spiegelbild des russischen politischen Systems, das keine Konkurrenz, keine demokratischen Institutionen, dafür aber die Unterdrückung von Aktivist*innen vorsieht. Neue Gesetze haben jegliche Kritik an der bestehenden politischen Ordnung gefährlich gemacht.
Die Volkswirtschaften der DNR und LNR wurden fast vollständig zerstört: Die meisten Bergwerke und Fabriken sind geschlossen und einige können auch nicht wiedereröffnet werden, da ihre Infrastruktur beschädigt, zerstört oder gestohlen wurde. Diese Abhängigkeit von Russland ist in den letzten zwei Jahren wegen der Corona-Restriktionen noch gewachsen. Reisen in die von der Ukraine kontrollierten Gebiete wurden eingeschränkt und Überquerungen der «Kontaktlinie» sind deutlich zurückgegangen. Nach acht Jahren des Konflikts haben die nicht von der Regierung kontrollierten Regionen des Donbas nicht mehr die Möglichkeit, sich der Ukraine anzuschließen, und auch eine Unabhängigkeit außerhalb bereits bestehender politischer Strukturen ist unmöglich.
Wie sieht die Zukunft der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk aus? Bevor Russland ihre Unabhängigkeit am 21. Februar 2022 anerkannt hatte, sollten sie als Druckmittel dienen, um Kontrolle über die Ukraine zu erlangen. Diese Aussicht konnte aber nur dann erfolgreich erscheinen, wenn die abtrünnigen Gebiete sich gemäß den Minsker Abkommen wieder in die Ukraine eingegliedert und sie infolgedessen weitreichende Autonomie und Einfluss auf die ukrainische Innen- und Außenpolitik erhalten hätten. Das ist jedoch nicht geschehen.
Durch die ökonomische, politische und kulturelle Entwicklung der letzten Jahre haben sich die „Republiken“ stark von der Ukraine entfremdet. Die Anerkennung der Unabhängigkeit, auf die kurz danach die russische Invasion der Ukraine folgte, besiegelte die Trennung. Gleichzeitig hat Russland nie die Absicht geäußert, die Territorien zu annektieren. Die meisten Menschen, die noch in der LNR und der DNR leben, würden einen solchen Schritt vermutlich befürworten, aber es ist nicht klar, inwiefern es für Russland vorteilhaft wäre, eine ökonomisch so stark verwüstete Gegend aufzunehmen, statt sie einfach für ihre eigenen Zwecke auszunutzen, nämlich zur Geldwäsche und Rohstoffausbeutung.
Abgesehen von der Frage, ob die «Unabhängigkeit» von der internationalen Gemeinschaft anerkannt wird, können die „Volksrepubliken“ nicht eigenständig überleben. Damit bleibt nur eine Option: Donezk und Luhansk werden Quasistaaten wie Südossetien oder Transnistrien. Sie werden international nicht anerkannt, können sich aber unter russischem Schutz irgendwie behaupten. Doch anders als die genannten Quasistaaten werden die beiden Republiken wohl noch stärker von Russland abhängig sein.