"Bekennst du dich nicht bedingungslos, bist du antirussisch"

Das russische Grossreich war seit jeher eine Projektionsfläche Europas. Koloniale und imperiale Elemente wurden im Westen jedoch oft ignoriert, sagt die Historikerin Botakoz Kassymbekova von der Universität Basel im Gespräch.

Als Russland den Krieg gegen die Ukraine begann, bekam Botakoz Kassymbekova zahlreiche Anfragen. Ihr Fachgebiet erhielt plötzlich Aufmerksamkeit – und das nicht nur von Medien, sondern auch von Fachkolleg:innen. Die gebürtige Kasachin forscht an der Universität Basel zu russischem Imperialismus und Kolonialismus in den letzten 200 Jahren.

swissinfo.ch: Seit dem Einmarsch in die Ukraine versucht Russland seinen Einfluss ausserhalb Europas zu vergrössern – stets mit dem Hinweis, keine koloniale Vergangenheit zu haben. Mehr noch: Man habe im 20. Jahrhundert den antikolonialen Kampf angeführtExterner Link und vielen Ländern so zur Freiheit verholfen. Verfängt das?

Botakoz Kassymbekova: Auf der politischen Ebene funktioniert es zum Teil. Es gibt vielerorts einen latenten Antiamerikanismus, den Russland gerne bedient. Auch haben viele Länder, die Putin ansprechen will, noch Erinnerungen an ihre Kolonialgeschichte – gerade auf dem afrikanischen Kontinent, wo Russland seinen Einfluss auszubauen versucht.

Sie bestehen darauf, Russland eine Kolonialmacht zu bezeichnen. Inwiefern ist es das?

Ethnische Russ:innen waren und sind in Russland eine dominierende und privilegierte Kategorie, das zieht sich durch das Zarenreich bis heute durch. Stalin nannte 1932 das russische Volk das wichtigste Volk der Sowjetunion, Putin stufte es 2020 als "staatsbildendes Volk" ein. Die Russifizierung als Assimilationspolitik hat eine lange Tradition, die verbunden ist mit Bevölkerungsverschiebungen, mit Sprachpolitik, mit Gewaltakten.

Vor 1917 hat Russland sich als stolze europäisches Kolonialmacht präsentiert. Seine Eroberungskriege waren blutig, deren Repräsentation wurde ein Teil der Russischen Kolonialkultur. Puschkin sprach mit Stolz von russischer Gewalt im Kaukasus und seine Poesie war wichtig, um die kolonialisierte Krim in der russischen nationalen Imagination zu verankern.

Zu den kolonialen Instrumenten des Russischen Reiches gehörten auch die Eliminierung oder Korrumpierung lokaler Institutionen, um deren Autorität zu schwächen, das Verbot der einheimischen Sprachen, und die Förderung russlandloyaler Eliten. Das zog sich auch unter den Bolschwiken weiter: nicht-russische Nationen wurden als rückständig dargestellt und russische Siedler:innen als Kulturträger:innen gefeiert.

Wie äussern sich diese kolonialen Praktiken im Krieg?

Heute heisst es: "Ich bin loyal zum Staat, also bin ich Russe." Russisch sein ist unter Putin eine imperiale Kategorie, die Menschen auffordert, ihr Leben für das Imperium zu geben. Es ist bezeichnend, wie man vor allem unter Minderheiten versucht, Männer für den Kriegseinsatz zu motivieren – plötzlich gelten diese Bürger zweiter Klasse als Russen, die sich für die Heimat zu opfern haben.

Die Idee der Russkij Mir (Russische Welt; Mir kann auch Frieden bedeuten), die schon in den frühen Neunzigern – vor Putin – in Moskau entwickelt wurde, hält ethnische Russ:innen in den Nachbarländern – und auch weltweit – für russlandaffin und will sie instrumentalisieren, um Einfluss auszuüben. Später hat sich dieses imperiale Konstrukt weiterentwickelt und schreibt Russland die Sonderrolle zu, die Welt neuzuordnen und antiwestliche Werte zu verteidigen.

Die Idee ist auf Ausdehnung und globalen Einfluss gerichtet, sie relativiert die Souveränität von Ländern innerhalb der vermeintlichen Einflusszone. Sie richtet sich auch gegen die Idee einer Nation als politisches Konstrukt, das auf Legitimation durch Verfassung und Wahlen beruht. Stattdessen werden kulturelle, religiöse und sprachliche Zugehörigkeit als grundlegend dargestellt.

Welche Rolle spielt der Angriffskrieg gegen die Ukraine in dieser Vorstellung?

Die Ukrainer:innen werden so als "natürlicher" Teil der russischen Geschichte und Kultur gedeutet. Es ist nur folgerichtig, dass der Angriffskrieg in Russland als "Spezialoperation" bezeichnet wird: Gegen die eigene Nation führt man keinen Krieg, sondern führt eine Operation zur Wiedervereinigung durch. Putin betont immer wieder, dass die Ukrainer keine Feinde sind, sondern Brüder, die vom Westen in die Irre geführt wurden.

Das scheint zuhause zu funktionieren. Sehen Sie Anzeichen, dass sich etwas ändern wird?

Gespräche über die koloniale Vergangenheit und Gegenwart können in der Ukraine, in Kasachstan, in Georgien oder Kirgistan geführt werden, denn dort gibt es Zivilgesellschaften. Aber in Russland? Dort ist es im Moment schwer, und zwar nicht nur wegen des Krieges. Sondern weil selbst russische Intellektuelle nicht daran interessiert sind.

Was Putins Regime, die liberale Opposition und die Intellektuellen eint, ist die Vorstellung, dass Russ:innen in erster Linie Opfer sind: entweder von ausländischen Kräften oder vom Regime Putins. Das erste Interview, dass Präsident Selenskyj russischen Oppositionsmedien nach Ausbruch des Krieges gab, war bezeichnend: Die Fragen der Journalist:innen drückten mehr Sorge über die Soldaten der russischen Okkupationsarmee und die vermeintliche Russophobie aus als über die ukrainischen Opfer und den Tabubruch des gross angelegten Angriffs.

Eine selbstkritische Auseinandersetzung damit ist unter ethnischen Russ:innen, die die grösste politische, wirtschaftliche und kulturelle Macht besitzen, sehr unpopulär – und wird auch als Verrat an Russland verstanden. Um beliebt zu sein in Russland, muss man die Narrative des Opfertums aufrechterhalten und also das Koloniale ausblenden.

Sonst müsste man die Macht mit Nicht-Russen teilen, sie als Gleichberechtigte anerkennen und am politischen, ökonomischen und intellektuellen Reichtum teilhaben lassen. Das würde jedoch als Verlust verstanden werden, weil russische Metropolen von Rohstoffen, die in kolonisierten Gebieten gestohlen werden, profitieren.

Was ist Russland heute für ein Land?

Eine Diktatur, ohne Meinungsfreiheit, unabhängige Medien oder eine kritische Zivilgesellschaft. Und auch ein Kolonialreich, das von Beginn an nationale Bewegungen unterdrückt hat, am drastischsten sichtbar in Tschetschenien in den 1990er-Jahren.

Nach Tschetschenien wurden auch die anderen autonomen Gebiete drangsaliert, ihre Rechte eingeschränkt – etwa in Tatarstan, Baschkortostan oder Kalmückien. Die Autonomierechte wurden Schritt für Schritt beschnitten, das wurde aber von den Intellektuellen in Moskau und St. Petersburg nicht registriert, oder zumindest nicht als wichtig genug angesehen. Danach kamen Georgien, die Krim, nun die ganze Ukraine – Diktatur, Kolonialismus und Eroberungskriege sind für Russland eng verwoben.

Für Menschen in der Metropole – Moskau – war das lange kein Problem. Was sie aber nicht bedacht haben, ist das, was Hannah Arendt den "imperialen Boomerang" nannte: Wenn sich Unterdrückung als System etabliert, dann wird sie irgendwann zurück in die Metropole kommen. Das sieht man nun immer deutlicher.

Lange hat sich dafür niemand interessiert. Hat der Angriff auf die Ukraine der breiten Öffentlichkeit den imperialen Charakter Russlands aufgezeigt?

Sicher werden jetzt Diskussionen geführt, die bislang nicht so einfach möglich waren. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab es das Bedürfnis, Russland neu zu beschreiben – um sozusagen den Kalten Krieg zu beenden. Während Jahrzehnten wurden Russ:innen in der westlichen Gesellschaft dämonisiert, nun ging es darum, sie wieder als Menschen zu sehen. Das war eine legitime Ambition.

Aber westliche Forschende, die früh vor dem russischen Revanchismus gewarnt haben, wurden als "Kalte Krieger" und Alarmisten kritisiert. Dabei haben manche von ihnen relativ genau vorausgesehen, in welche Richtung sich das Land entwickeln würde.

Welche Schuld trägt hier die westliche Geschichtswissenschaft?

Historiker:innen sind nicht dazu da, die Zukunft vorauszusehen. Die Frage nach der Verantwortung müssen wir uns aber stellen, weil wir sonst immer wieder die gleichen Fehler machen werden. Der Blick nach Russland war immer in erster Linie nach Moskau und St. Petersburg gerichtet, der Austausch erfolgte fast ausschliesslich mit Wissenschaftler:innen aus den Metropolen. So etablierten sich russisch-zentrierte Narrative, die oft Russland als missverstanden oder als Opfer darstellten. Menschen aus ehemaligen kolonisierten Nationen kamen praktisch nie zu Wort.

Es gibt hunderte von russischen Wissenschaftler:innen, die an westlichen Universitäten und Think-Tanks über Russland und die Region schreiben, aber kaum solche aus dem Kaukasus, der Ukraine, Belarus, Moldau, Zentralasien und den autonomen Republiken innerhalb der Russischen Föderation. Wenn Wissenschaftler:innen aus diesen Republiken kritisch gegenüber Russland schrieben, wurden sie oft als nationalistisch abgetan.

Was dazu kommt: Praktisch alle Archive sind in Moskau. So ist auch die Erforschung der Vergangenheit abhängig von Moskau. Ich plädiere dafür, dass es auch in Tbilissi, Riga und Bischkek Zugang zu den zentralen sowjetischen Archiven geben sollte. Denn man kann beispielsweise die Kolonialisierungsgeschichte Zentralasiens oder Sibiriens nicht ohne die des Baltikums verstehen – und umgekehrt.