Ilya Budraitskis Enzo Traverso
Ilja Budraitskis: Vor einigen Jahren haben Sie das Buch The New Faces of Fascism (Verso, 2019; auch auf Deutsch erschienen: Die neuen Gesichter des Faschismus, ISP-Verlag) geschrieben, in dem Sie den Postfaschismus als eine neue Bedrohung definierten, der dem klassischen Faschismus des zwanzigsten Jahrhunderts ähnelt und sich zugleich von ihm unterscheidet. Postfaschismus, wie Sie ihn beschreiben, erwächst aus dem grundlegend neuen Boden des neoliberalen Kapitalismus, in dem Arbeiterbewegungen und Formen der sozialen Solidarität angegriffen wurden. Sie betonen, dass der Postfaschismus aus der Post-Politik hervorgegangen ist, als Reaktion auf technokratische Regierungen, die die demokratische Legitimität ignorieren. Gleichzeitig beschränkt sich Ihre Analyse hauptsächlich auf die Europäische Union und die Vereinigten Staaten, wo der Faschismus aus der liberalen Demokratie hervorgegangen ist. Lässt sich dieser Ansatz auf die Transformation autoritärer Regime wie das in Russland ausweiten, insbesondere nach dem Beginn der Invasion in der Ukraine? In Russland präsentierte sich das Regime im ersten Jahrzehnt seines Bestehens Anfang der 2000er Jahre ebenfalls als technokratische post-politische Regierung. Es basierte auf einer Entpolitisierung der Massen und einem Mangel an politischer Beteiligung in der russischen Gesellschaft.
Enzo Traverso: Nun, es ist wichtig zu betonen, dass „Postfaschismus“ eine unkonventionelle analytische Kategorie ist. Es handelt sich nicht um ein kanonisches Konzept wie Liberalismus, Kommunismus oder Faschismus. Es handelt sich vielmehr um ein Übergangsphänomen, das sich noch nicht herauskristallisiert hat und dessen Wesen noch nicht klar definiert ist. Es kann sich in verschiedene Richtungen entwickeln. Der Ausgangspunkt dieser Definition ist jedoch, dass der Faschismus transhistorisch ist und über die historisch bedingte Erfahrung der 1930er Jahre hinausgeht. Faschismus ist eine Kategorie, mit der sich politische Erfahrungen, Machtsysteme und Regime, die nach der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen entstanden sind, definieren lässt. Es ist üblich, über den lateinamerikanischen Faschismus während der Militärdiktaturen der 1960er und 1970er Jahre zu sprechen.
Wenn wir also von Demokratie sprechen, sollten wir beachten, dass Deutschland, Italien, die Vereinigten Staaten und Argentinien zwar das Etikett der liberalen Demokratie tragen, dies aber nicht bedeutet, dass ihre institutionellen Systeme gleich sind. Es bedeutet auch nicht, dass sie mit der Demokratie des Perikles im antiken Athen übereinstimmen. Faschismus ist also ein Gattungsbegriff, der eine transhistorische Dimension hat. Sie haben Recht, wenn Sie sagen, dass sich mein Buch über den Postfaschismus vor allem auf die Europäische Union, die Vereinigten Staaten und einige lateinamerikanische Länder konzentriert. Als ich es schrieb, war Bolsonaro in Brasilien noch nicht an die Macht gekommen. Ich habe jedoch auch geschrieben, dass der Postfaschismus als eine globale Kategorie betrachtet werden könnte, zu der auch autoritäre politische Regime wie Putins Russland oder Bolsonaros Brasilien gehören. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Kategorie verwendet werden kann, um Xi Jinpings China zu definieren, einfach weil dieses Regime durch die kommunistische Revolution von 1949 geschaffen wurde (ich glaube auch nicht, dass wir Stalins Russland als „faschistisch“ bezeichnen können). Vielleicht kann diese Kategorie verwendet werden, um einige Tendenzen zu beschreiben, die Modis Indien oder Erdoğans Türkei prägen und berechtigte Sorgen hervorrufen. Ich schlage jedoch nicht vor, meine Analyse Westeuropas auf andere Kontinente und politische Systeme auszudehnen oder zu übertragen; ich würde vielmehr sagen, dass der westeuropäische Postfaschismus innerhalb einer globalen postfaschistischen Tendenz verortet werden kann, die Regime mit völlig unterschiedlichen historischen Verläufen und Vergangenheiten einschließt. Andernfalls wäre es eine sehr problematische Art und Weise, zum x-ten Mal ein eurozentrisches Paradigma des Faschismus zu schaffen, was nicht mein Ansatz ist.
Das Problem der Definition des Postfaschismus bleibt jedoch auch nach diesen Überlegungen bestehen. Der globale Postfaschismus ist eine heterogene Konstellation, in der wir gemeinsame Merkmale und Tendenzen finden können. Es handelt sich um Nationalismus, Autoritarismus und eine spezifische Idee der „nationalen Regeneration“. Innerhalb dieser Konstellation können diese Tendenzen in unterschiedlicher Kombination und in unterschiedlichem Ausmaß auftreten. So ist beispielsweise Putins Russland viel autoritärer als Melonis Italien. In Italien haben wir eine Regierungschefin, die sich stolz auf die faschistische Vergangenheit (ihre eigene und die ihres Landes) beruft, aber Italiens Andersdenkende werden nicht zensiert, verfolgt oder ins Gefängnis gesteckt wie in Russland. Es gibt keine Italiener, die im Exil leben, weil ihr Leben in Italien bedroht ist. Dies ist ein bedeutender qualitativer Unterschied. Ein weiterer wichtiger Unterschied ist das Verhältnis zur Gewalt. Wir sprechen über Russland, ein Land, das in einen Krieg verwickelt ist. Die Gewalt, die von dieser Variante des postfaschistischen Regimes ausgeht, ist nicht vergleichbar.
Es gibt eine Menge relevanter Unterschiede, die all diese Formen des Postfaschismus vom klassischen Faschismus unterscheiden. Ihre Ideologien und die Art und Weise, wie sie die Massen mobilisieren, sind nicht dieselben ... Die utopische Dimension zum Beispiel, die den klassischen Faschismus kennzeichnet, ist im heutigen Faschismus, der sehr konservativ ist, völlig abwesend. Wir könnten noch weitere Spaltungen nennen.
Ich würde gerne auf diese Merkmale des Postfaschismus eingehen. Wenn ich Sie nach der Lektüre des Buches und einiger Ihrer Interviews richtig verstehe, betonen Sie, dass der Postfaschismus aus der Krise der Demokratie entstand. Demokratie nicht als normativer Begriff, sondern als Wahlpolitik, um genau zu sein. Der Unterschied zwischen dem klassischen Faschismus und dem Postfaschismus ist, dass letzterer die Demokratie nicht in Frage stellt. Der klassische Faschismus hatte die Aufgabe, die Demokratie zu stürzen. Der Postfaschismus versucht immer noch, sich der Wahlmechanismen zu bedienen. Die Umwandlung in eine offen faschistische Diktatur soll durch legale Institutionen erfolgen. Mich interessiert vor allem dieses Moment des Übergangs. Sie schreiben in Ihrem Buch auch, dass der Postfaschismus als eine Phase neuer Qualität politischer Regime mit autoritären oder diktatorischen Zügen verstanden werden kann. Wie unterscheidet sich dieser Übergang Ihrer Meinung nach in den verschiedenen Regionen? Ich glaube, dass sich in Russland faschistische Tendenzen von oben herab entwickelt haben. Vor zwanzig Jahren wurden bereits Elemente des autoritären Regimes installiert und seither hat sich Russland in eine Art faschistische Diktatur verwandelt.
Ein einfacher historischer Überblick zeigt, dass viele autoritäre Regime mit faschistischen Zügen ohne Massenbewegungen entstanden sind, sondern durch einen Militärputsch eingeführt wurden, zum Beispiel das Franco-Regime in Spanien oder lateinamerikanische Regime in den 1960er und 1970er Jahren. Im Gegensatz zu den kanonischen Beispielen des faschistischen Italiens und Nazideutschlands wurden sie nicht von einer Massenbewegung unterstützt. Sowohl Mussolini als auch Hitler wurden vom König (in der italienischen Monarchie) bzw. vom Präsidenten (in der Weimarer Republik) im Rahmen ihrer verfassungsmäßigen Befugnisse an die Macht gebracht. Ich glaube nicht, dass wir ein zwingendes oder normatives faschistisches Paradigma schaffen können. Es handelt sich um eine große Kategorie, die verschiedene Ideologien und Formen der Macht umfasst.
Ein enormer Unterschied zwischen dem Postfaschismus und dem klassischen Faschismus ist der riesige Wandel, der im öffentlichen Raum stattgefunden hat. Zur Zeit des klassischen Faschismus hatten die charismatischen Führer einen fast physischen Kontakt mit ihrer Anhängerschaft. Faschistische Kundgebungen waren liturgische Momente, in denen diese emotionale Gemeinschaft zwischen dem Führer und seinen Anhängern gefeiert wurde. Heute ist diese Verbindung durch die Medien ersetzt worden, die eine völlig andere Art von charismatischer Führung hervorbringen, die gleichzeitig ausgedehnter und durchdringender, aber auch zerbrechlicher ist. Nichtsdestotrotz können wir die grundlegende Frage nicht umgehen: Was bedeutet Faschismus im einundzwanzigsten Jahrhundert? Alle Beobachter stehen ständig vor dieser Frage: Ist Trump/Putin/Bolsonaro/Le Pen/Meloni/Orban faschistisch? Allein die Tatsache, dass diese Frage gestellt wird, bedeutet für uns, dass es unmöglich ist, all diese Führer oder Regime zu analysieren, ohne sie mit dem klassischen Faschismus zu vergleichen. Einerseits sind sie nicht von vornherein faschistisch, andererseits können sie nicht definiert werden, ohne mit dem Faschismus verglichen zu werden. Sie sind irgendetwas zwischen Faschismus und Demokratie und pendeln je nach den wechselnden Umständen zwischen diesen beiden Polen hin und her.
Es gibt auch eine widersprüchliche Dynamik. Der russische Nationalismus durchläuft einen Prozess der Radikalisierung, der diese postfaschistischen Tendenzen verstärkt. In Westeuropa ist der italienische Fall emblematisch für die entgegengesetzte Tendenz. Bis vor kurzem war Georgia Meloni die einzige politische Führungspersönlichkeit, die sich im italienischen Parlament schamlos zu ihrer faschistischen Identität bekannte. Darin unterschied sie sich von anderen Rechtsextremen in Europa, wie z. B. Marine Le Pen, die die ideologischen und politischen Modelle ihres Vaters ausdrücklich aufgegeben hatte, indem sie den Namen ihrer Bewegung änderte („Rassemblement National“ anstelle von „Front National“). Marine Le Pen bekannte sich zur Demokratie und bekräftigte ihre Unterstützung für die Institutionen der französischen Republik, während Meloni die Errungenschaften von Mussolinis Italien feierte. Letztere gewann die Wahl - dank eines günstigen Wahlsystems und der Spaltung der linken Mitte - nicht wegen ihrer ideologischen Bezüge, sondern weil sie als einzige und kohärenteste Gegenspielerin von Mario Draghi auftrat, dem Chef einer von der Europäischen Union unterstützten Regierungskoalition.
Seit ihrem Amtsantritt hat Meloni jedoch die gleiche Politik wie ihr Vorgänger fortgesetzt und kritisiert die EU-Institutionen nicht mehr. Als Regierungschefin feierte sie den Jahrestag der Befreiung, den Jahrestag des Sieges der Demokratie über den Faschismus, der am 25. April 1945 stattfand. Meloni erinnert mich an jene paradoxen Figuren, die in den 1920er Jahren in Deutschland als Vernunftrepublikaner bezeichnet wurden. Nach dem Zusammenbruch von Wilhelms Kaiserreich Ende 1918 hatten sie zwar die demokratischen Institutionen der Weimarer Republik aus Vernunft akzeptiert, aber ihr Herz schlug immer noch für das Kaiserreich. Die italienischen Postfaschisten sind ein ähnlicher Fall, ein Jahrhundert später. Sie wollen weder eine Diktatur errichten noch das Parlament auflösen, aber emotional und kulturell bleiben sie faschistisch. Ihr Faschismus erfordert viele Anpassungen an einen veränderten historischen Kontext.
Und dann ist da noch der Fall von Trump. Im Jahr 2016 war er eine beunruhigende und rätselhafte politische Neuerung. Während seiner Präsidentschaft und insbesondere am 6. Januar 2021 erlebten wir eine bedeutende politische Wende, die eine eindeutig faschistische Dynamik erkennen ließ. Heute bin ich mir nicht mehr sicher, ob die Republikanische Partei, die eine der Säulen des US-Establishments war, noch als ein Bestandteil der amerikanischen Demokratie bezeichnet werden kann. Sie ist eine politische Partei, in der sehr starke postfaschistische oder sogar neofaschistische Tendenzen hegemonial geworden sind, eine politische Partei, die den Rechtsstaat und das elementarste Prinzip der Demokratie in Frage stellt: den Wechsel der Macht durch Wahlen.
Ich stelle die Hypothese auf, dass in Ländern mit Einschränkungen der politischen Macht durch oppositionelle politische Bewegungen oder verschiedene staatliche Institutionen , die Macht des Präsidenten oder des Premierministers so reduziert ist, dass der Übergang zu einem autoritären Staat komplizierter ist. In Russland hingegen haben alle politischen Institutionen ihre Unabhängigkeit verloren (kein Parlament, kein Gericht, keine ernsthafte politische Opposition), und es gibt keine Beschränkungen für die Handlungen des Präsidenten, des einzigen Souveräns. In Ländern wie den USA ist der Präsident in seiner unabhängigen Entscheidungsfindung und Politikgestaltung durch zahlreiche Hindernisse eingeschränkt, und die Entscheidungen des Präsidenten sind nicht uneingeschränkt maßgebend.
Ich stimme mit Ihnen überein. Ich bin weit davon entfernt, die liberale Demokratie und die Marktgesellschaft zu idealisieren, aber es gibt zweifellos einen Unterschied zwischen den Vereinigten Staaten, wo die Demokratie seit zweieinhalb Jahrhunderten existiert und Russland, wo sie fast nie existiert hat. Wir müssen nicht de Tocqueville bemühen, um dies zu erklären. In Russland ist die Demokratie das Erbe einiger Jahre Glasnost und Perestroika am Ende der UdSSR sowie ein Nebenprodukt des Widerstands der Zivilgesellschaft gegen eine oligarchische Macht, die vor drei Jahrzehnten den Übergang zum Kapitalismus vollzogen hat.
Es bleibt jedoch eine Kluft zwischen der neuen radikalen Rechten und dem klassischen Faschismus, die ebenfalls berücksichtigt werden sollte: das Verhältnis des Postfaschismus zum Neoliberalismus, wie Sie zu Beginn unseres Gesprächs sagten. Mein Buch legt nahe, dass einer der Schlüssel zum Verständnis der postfaschistischen Welle in Westeuropa in ihrer Opposition zum Neoliberalismus liegt. Wie der Fall Meloni zeigt, handelt es sich dabei natürlich um eine sehr widersprüchliche Opposition. Sie gewinnen Wahlen, weil sie gegen den Neoliberalismus sind, aber wenn sie an die Macht kommen, wenden sie neoliberale Politik an. Italien ist ein gutes Beispiel dafür. Der Neoliberalismus wird in Westeuropa durch die Europäische Union, die Europäische Kommission, die Europäische Zentralbank usw. verkörpert. Diese Institutionen sind vertrauenswürdige Gesprächspartner der Finanzeliten, die auch mit Marine Le Pen, Giorgia Meloni oder Victor Orban einen Kompromiss finden können, ohne ihnen völlig zu vertrauen. Emmanuel Macron, Mario Draghi und Mark Rutte sind viel zuverlässigere und vertrauenswürdigere Führungspersönlichkeiten.
In den USA lag ein Schlüssel zum Verständnis der Wahl von Trump im Jahr 2016 in seiner Opposition zum Establishment. Hilary Clinton verkörperte das Establishment viel mehr als Trump, trotz der offensichtlichen Tatsache, dass ein mächtiger Teil des amerikanischen Kapitalismus die Republikanische Partei unterstützt. Nichtsdestotrotz gibt es eine offensichtliche Spannung zwischen Trump - manchmal auch eine Opposition - und den wichtigsten Elementen des Neoliberalismus. Man denke nur an das sehr schlechte Verhältnis zwischen Trump und den multinationalen Unternehmen in Kalifornien, den neuen Technologien und so weiter. Es gibt auch eine fast „ontologische“ oder konstitutive Diskrepanz zwischen dem Neoliberalismus, der über den globalen Markt funktioniert, und dem Postfaschismus, der zutiefst nationalistisch ist. Postfaschisten fordern staatliche Interventionen und protektionistische Tendenzen, die der Logik des Finanzkapitalismus widersprechen.
Meine nächste Frage bezieht sich auf das, was Sie gerade über die neoliberale Transformation des heutigen Kapitalismus gesagt haben. Sie erwähnen in Ihrem Buch, dass einer der Unterschiede zwischen dem Postfaschismus und dem klassischen Faschismus das Fehlen eines Zukunftsprojekts ist. Während der klassische Faschismus ein modernistisches Projekt mit einer Vision einer anderen Gesellschaft war (im Gegensatz zu jeder emanzipatorischen sozialistischen Perspektive), hat der Postfaschismus kein konsistentes Projekt, sondern nur einen Blick ohne Horizont. Es gibt die Vorstellung, dass wir in eine schöne Vergangenheit zurückkehren müssen, ohne eine Vision für die Zukunft zu haben. Das erinnert mich an eines der Hauptmerkmale des Neoliberalismus. Es gibt keine Zukunft, keine Alternative. Der kapitalistische Realismus ist vorherrschend, wie Mark Fisher einmal feststellte. Ein weiteres Merkmal ist die zeitliche Erfahrung der postfaschistischen Führer. Leute wie Putin und Trump sind ältere Menschen. Der klassische Faschismus war vor allem eine Bewegung der Jugend. Glauben Sie, dass dieses Fehlen einer Zukunft und dieses rückblickende, nostalgische Element des Postfaschismus irgendwie mit dem neoliberalen Fehlen einer Zukunftsperspektive zusammenhängt?
ET: Sie weisen auf einige wichtige Punkte hin. Der klassische Faschismus besaß eine starke utopische Dimension. Er wollte eine Alternative sowohl zum Liberalismus als auch zum Kommunismus sein, er strebte jedoch sogar danach, eine neue Zivilisation zu sein, etwas, das mit einer anderen Auffassung der Existenz selbst zusammenhängt. Sie entwarfen sehr ehrgeizige Gesellschaftsentwürfe: den Mythos vom neuen Menschen, den Mythos vom „Tausendjährigen Reich“ und so weiter. Diese utopische Dimension war in der Tiefe der europäischen und internationalen Krise des Kapitalismus verwurzelt. Heute gibt es sie nicht mehr, weil der Kapitalismus in seiner neoliberalen Form als unüberwindbarer und unzerstörbarer Rahmen erscheint. Zwischen den beiden Weltkriegen gab es eine Alternative zum Kapitalismus, die durch die Russische Revolution geschaffen wurde, und der Kommunismus als utopisches Projekt konnte Millionen von Menschen mobilisieren. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Die heutigen postfaschistischen Strömungen sind extrem konservativ. Sie wollen die traditionellen Werte retten. Sie wollen zur traditionellen Idee einer Nation zurückkehren, die als kulturelle, religiöse und ethnisch homogene Gemeinschaft verstanden wird. Sie wollen die christlichen Werte wiederherstellen, auf denen die Geschichte Europas aufgebaut wurde. Sie wollen die nationalen Gemeinschaften gegen die Invasion des Islam, die Einwanderung usw. verteidigen. Sie wollen die nationale Souveränität gegen den Globalismus schützen. Dies erinnert nicht an faschistische Utopien oder an Nazideutschland, sondern vielmehr an den deutschen Kulturpessimismus des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts.
Der Postfaschismus ist reaktionär und als solcher ist er eine Reaktion auf den Neoliberalismus, der nicht zu nationalen Grenzen und Souveränitäten zurückkehren will. Die neoliberale historische Zeitlichkeit ist „präsentistisch“, nicht reaktionär. Sie postuliert eine ewige Gegenwart, die sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft absorbiert: Unser Leben und unsere Gesellschaft müssen den Regeln der kapitalistischen Entwicklung entsprechen, gemäß einer Zeitlichkeit, die mit der Börse synchronisiert ist. Der allgemeine Rahmen des Kapitalismus ist unabänderlich. Der Kapitalismus ist hier „naturalisiert“, und dies ist wahrscheinlich die größte Errungenschaft des Neoliberalismus. Der Postfaschismus ist eine illusorische Alternative zum Neoliberalismus, so wie der Faschismus sich oft als „antikapitalistisch“ dargestellt hat; der Unterschied ist jedoch, dass die herrschenden Klassen heute nicht diese falsche Alternative wählen. Ihre Institutionen sind nicht so tief verunsichert, dass sie eine solche Alternative akzeptieren würden.
Das Gleiche gilt für seinen Expansionismus. Der italienische Faschismus wollte neue Kolonien erobern; Nazideutschland wollte ganz Kontinentaleuropa erobern. Der heutige Postfaschismus ist sehr fremdenfeindlich und rassistisch, aber seine Fremdenfeindlichkeit und sein Rassismus sind defensiv. Sie sagen: Wir müssen uns gegen die Bedrohung durch die „Invasion“ nicht-weißer und nicht-europäischer Einwanderer schützen. Wir werden Äthiopien nicht erobern, wir werden uns vor der äthiopischen Einwanderung schützen. Der Vergleich zwischen Putins Aggression in der Ukraine und den faschistischen oder nationalsozialistischen Eroberungen in Europa hinkt, weil Putins Expansionismus das Russische Reich in Mitteleuropa wiederherstellen will, indem er ein Land reintegriert, das der russische Nationalismus immer als seinen eigenen Lebensraum betrachtet hat, der kulturell zur russischen Geschichte gehört. Aber der Ukraine-Krieg, wenn wir einen kontrafaktischen Vergleich anstellen können, ist so, als ob der deutsche Einmarsch in Polen im September 1939 in zwei Wochen gestoppt worden wäre und die Wehrmacht die Besetzung Warschaus hätte aufgeben müssen. .
Ich stimme zu, dass Hitler viel erfolgreicher war als Putin.
Der Charakter der Expansion ist nicht derselbe. Die nationalsozialistische Aggression gegen Polen war imperialistisch und expansionistisch; die russische Aggression gegen die Ukraine ist revanchistisch und „defensiv“, insbesondere in Anbetracht des Ziels Kiews, der NATO beizutreten. Es gibt auch einige relevante demografische Unterschiede. In den 1930er Jahren hatte Nazi-Deutschland, ähnlich wie Russland heute, erhebliche Gebiets- und Bevölkerungsverluste erlitten, aber seine Bevölkerung wuchs dramatisch. In Italien wuchs die Bevölkerung trotz einer strukturellen Abwanderung, die die Wirtschaft des Landes schwächte. Wenn Putin heute eine illusorische nationalistische Antwort auf den Zusammenbruch von 1990 verkörpert, dann auch deshalb, weil sein defensiver Expansionismus nicht durch eine starke demographische Dynamik gestützt wird. Russland befindet sich im Niedergang und kämpft darum, seinen Status als Supermacht zu erhalten. Natürlich hat es einige Vorteile: Atomwaffen und so weiter. Aber wirtschaftlich und demographisch gesehen ist sein radikalisierter Nationalismus defensiv.
Lassen Sie mich aber noch eine letzte Überlegung zum Neoliberalismus anstellen. Der Neoliberalismus ist nicht nur ein Bündel von wirtschaftspolitischen Maßnahmen: freier Markt, Deregulierung, globale Wirtschaft. Er ist auch ein anthropologisches Modell, eine Lebensweise. Es handelt sich um eine Philosophie und einen Lebensstil, der auf Wettbewerb, Individualismus und einer bestimmten Auffassung von menschlichen Beziehungen beruht. Im einundzwanzigsten Jahrhundert wurde dieses anthropologische Paradigma auf globaler Ebene durchgesetzt. Das bedeutet, dass alle postfaschistischen Bewegungen in diesem anthropologischen Hintergrund verwurzelt sind. Dies erklärt, warum es im Vergleich zum klassischen Faschismus so viele bedeutende Veränderungen gibt. Erstens haben wir starke postfaschistische Bewegungen, die von Frauen geführt werden. Das wäre in den 1930er Jahren unvorstellbar gewesen. Zweitens müssen die Bewegungen bestimmte Formen von Individualismus, individuellen Rechten und Freiheiten akzeptieren. Ihre Islamophobie beispielsweise wird manchmal als Verteidigung westlicher Werte gegen islamischen Obskurantismus formuliert. Auf diese Weise wendet sich der Postfaschismus zwar gegen den Neoliberalismus, ist aber gleichzeitig in dessen sozialer Struktur verwurzelt.
Sie haben erwähnt, dass eines der wichtigsten Gefühle des Postfaschismus die Verteidigungslinie ist.
Tatsächlich wurde der gesamte von Russland angezettelte Krieg von der offiziellen Propaganda als Verteidigung nicht nur gegen die NATO, sondern auch gegen falsche Werte dargestellt, insbesondere gegen die Unterwanderung der LGBT- und Gender-Politik. In diesem Sinne kann man sagen, dass in dieser Art von Regime die Grenzen zwischen internationaler Politik und Innenpolitik verschwimmen. Wir können aber auch feststellen, dass die neoliberale Denkweise, von der Sie gerade gesprochen haben, alle Erklärungen der internationalen Situation dominiert. Natürlich beschäftigt sich Putin in seiner politischen Vorstellung sehr stark mit der Rolle Russlands in der globalen Arena. Dennoch erklären Putin und andere russische Beamte, dass die internationalen Beziehungen eine Art Markt sind, auf dem Wettbewerb herrscht, wo das gleiche Paradigma des Eigeninteresses die Position der Staaten bestimmt, wo die multipolare Welt, für die sie anstelle der amerikanischen Hegemonie werben, der wahre freie Markt gegen das Monopol ist. Sie sehen die Welt als ein Monopol der USA, das durch einen echten, ehrlichen und fairen Wettbewerb zwischen mehreren starken Akteuren herausgefordert werden sollte. Wie sehen Sie diese Beziehungen?
Ich bin nicht gut gerüstet, um diese Frage zufriedenstellend zu beantworten. Natürlich verdient der hartnäckige und bewundernswerte Widerstand der Ukraine gegen die russische Invasion Unterstützung, sowohl politisch als auch militärisch. Ich bin nicht einverstanden mit den Strömungen der westlichen Linken, die die russische Aggression anprangern und sich gleichzeitig weigern, Waffen nach Kiew zu schicken. Das scheint mir eine heuchlerische Haltung zu sein. Der ukrainische Widerstand führt einen nationalen Befreiungskrieg, der stark pluralistisch und heterogen ist. Wie alle Widerstandsbewegungen in Europa während des Zweiten Weltkriegs umfasst er rechte und linke Strömungen, nationalistische und kosmopolitische Sensibilitäten, autoritäre und demokratische Tendenzen. Zwischen 1943 und 1945 versammelte der italienische Widerstand ein breites Spektrum an Kräften, von den Kommunisten (der hegemonialen Tendenz) über die Monarchisten (einer kleinen Minderheit) bis hin zu Sozialdemokraten, Liberalen und Katholiken. In Frankreich hatte der Widerstand zwei Seelen - de Gaulle und die Kommunisten -, daneben gab es auch kämpfende Katholiken, Trotzkisten und eine Konstellation kleiner (aber sehr wirksamer) Organisationen antifaschistischer Einwanderer aus Mitteleuropa, Italien, Spanien, dem türkischen Armenien usw. Diese Vielfalt ist in einer nationalen Widerstandsbewegung unvermeidlich.
Dennoch bin ich recht pessimistisch, was den Ausgang dieses Konflikts angeht. Wenn Putin gewinnt, was unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich ist (insbesondere im Falle einer Beteiligung Chinas auf seiner Seite), wird dies tragische Folgen nicht nur für Russland und die Ukraine, sondern auch auf globaler Ebene haben. Faschistische und autoritäre Tendenzen werden in Russland gestärkt werden; ebenso werden postfaschistische Tendenzen in Europa und weltweit zunehmen. Andererseits würde eine russische Niederlage, die wünschenswert ist, nicht nur die Bestätigung einer freien und unabhängigen Ukraine bedeuten, sondern sehr wahrscheinlich auch eine Ausweitung der NATO und der US-Hegemonie, was weit weniger attraktiv ist.
Der Ukraine-Krieg wird oft als eine Verflechtung von Konflikten dargestellt: eine russische Invasion, die eine nicht hinnehmbare Aggression darstellt; ein Selbstverteidigungskrieg der Ukraine, die unterstützt werden will; und eine indirekte militärische Intervention des Westens, die die USA in einen Stellvertreterkrieg der NATO umwandeln wollen. Vor zehn Jahren herrschte in der Ukraine ein Bürgerkrieg, der einige der Voraussetzungen für den gegenwärtigen Konflikt geschaffen hat. Dies ist eine sehr komplexe Situation, in der die Linke nuanciert vorgehen muss. Während wir in Russland gegen Putin und in der Ukraine gegen die russische Invasion kämpfen müssen, können wir in den USA und den EU-Ländern eine Ausweitung der NATO oder die Erhöhung unserer Militärbudgets nicht unterstützen.
Diese Situation ist nicht völlig neu. Während des Zweiten Weltkriegs kämpften die Widerstandsbewegungen und die alliierten Armeen gemeinsam gegen die Achsenmächte, aber ihre Annäherung war begrenzt, und sie verfolgten nicht dieselben Endziele. Dies wurde in Griechenland deutlich, wo der Zusammenbruch der deutschen Besatzung das Land in einen Bürgerkrieg stürzte, in dem die britische Armee half, den kommunistischen Widerstand zu unterdrücken. Tito und Eisenhower kämpften gemeinsam gegen Hitler, aber ihre Ziele waren nicht die gleichen. Heute befinden wir uns in diesem Strudel widersprüchlicher Tendenzen: Einerseits müssen wir den ukrainischen Widerstand unterstützen, ebenso wie die dissidenten Stimmen in Russland; andererseits müssen wir in der Lage sein zu sagen, dass eine neoliberale Ordnung nicht die einzige Alternative zum Postfaschismus ist. Die Linke sollte in der Lage sein, mit den nicht-westlichen Ländern zu sprechen, die diese Invasion nicht verurteilt haben. Die westliche Linke sollte beweisen, dass es möglich ist, gegen die neoliberale Ordnung zu kämpfen, ohne Freunde Putins zu sein.
Meine letzte Frage bezieht sich auf den Antifaschismus. Sie schreiben, dass der Antifaschismus als Tradition und Sichtweise in den letzten Jahren verloren gegangen ist, und Sie glauben, dass die Wiederherstellung der antifaschistischen Tradition die einzig richtige Antwort auf den Aufstieg des Faschismus sein könnte. Das bedeutet aber auch, dass die antifaschistische Tradition neu erfunden werden muss; sie kann nicht dieselbe Bewegung sein, die sie Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts war. Natürlich gibt es eine Menge Schwierigkeiten mit dieser Tradition. So wurde beispielsweise die russische Invasion in der Ukraine von der offiziellen russischen Propaganda ebenfalls als antifaschistisch (gegen die ukrainischen „Nazis“) bezeichnet. Natürlich wurde die Idee des Antifaschismus von verschiedenen Seiten abgewertet. Wie kann diese Neuerfindung des Antifaschismus aussehen?
Auch hier ist es schwierig, diese Frage zu beantworten. Ich habe den Postfaschismus als ein globales Phänomen dargestellt, aber ich bin mir nicht sicher, ob wir von einem globalen Antifaschismus sprechen können. Das hängt von den jeweiligen Umständen ab. Natürlich können wir sagen, dass der Faschismus überall und zu jeder Zeit schlecht ist, aber der Antifaschismus hat nicht überall und zu jeder Zeit die gleiche Bedeutung und die gleichen politischen Möglichkeiten. Ich weiß nicht, wie Antifaschismus heute in Russland, Indien oder auf den Philippinen wahrgenommen werden kann. Verschiedene Länder haben unterschiedliche historische Entwicklungen und der Antifaschismus kann nicht überall auf die gleiche Weise verstanden und mobilisiert werden. In Westeuropa steht der Antifaschismus für eine spezifische historische Erinnerung. In Italien, Frankreich, Deutschland, Spanien oder Portugal, also in Ländern, die den Faschismus erlebt haben und ein gemeinsames kollektives Gedächtnis haben, ist es unmöglich, die Demokratie zu verteidigen, ohne sich auf ein antifaschistisches Erbe zu berufen. In Indien beispielsweise ist die Beziehung zwischen dem Kampf um die Unabhängigkeit und dem Antifaschismus viel komplexer. Während des Zweiten Weltkriegs bedeutete antifaschistisch zu sein, dass man zumindest eine Zeit lang auf den Kampf für die Unabhängigkeit verzichtete. In Russland bedient sich Putin einer demagogischen Rhetorik, indem er den Einmarsch in die Ukraine als letzte Etappe des Großen Vaterländischen Krieges darstellt. Natürlich ist es für russische Demokraten und Dissidenten von entscheidender Bedeutung, diese verlogene Propaganda zu entmystifizieren und die wahre Bedeutung des Antifaschismus wiederherzustellen. In der Ukraine sind die Dinge komplizierter, denn der Kampf gegen die russische Unterdrückung ist älter als der Antifaschismus und war nicht immer antifaschistisch. Die Geschichte des ukrainischen Nationalismus enthält eine faschistische und rechtsgerichtete Komponente, die nicht vergessen werden darf. Gleichzeitig ist die Erinnerung an den Antifaschismus die eines antinazistischen Krieges - so episch und heroisch wie tragisch er auch war -, den die Ukrainer als Teil der UdSSR führten. Antifaschistisch zu sein bedeutet daher, sich auf eine Tradition zu berufen, die in der ukrainischen Geschichte nicht konsensfähig ist. Es bedeutet, eine bestimmte politische Identität innerhalb einer pluralistischen Widerstandsbewegung zu verteidigen. Die Dinge sind unglaublich kompliziert. Grosso modo könnte man sagen, dass Antifaschismus eine freie und unabhängige Ukraine bedeutet, die sich nicht gegen ein demokratisches Russland stellt, sondern mit ihm verbündet ist. Leider wird dies nicht morgen der Fall sein.
Übersetzung aus dem Englischen: Flo WeimerskirchQuelle: Posle, 18. Mai 2023.
Enzo Traverso lehrte fast zwanzig Jahre lang Politikwissenschaft in Frankreich. Seit 2013 ist er Professor für Geisteswissenschaften an der Cornell University. Zu seinen Veröffentlichungen gehören mehr als zehn selbst verfasste und herausgegebene Bücher. Ins Deutsche übersetzt sind unter anderem: Die Juden und Deutschland: Auschwitz und die „jüdisch-deutsche Symbiose“, Basisdruck, 1993. Die Marxisten und die jüdische Frage: Geschichte einer Debatte; (1843–1943), Decaton-Verl., 1995. Nach Auschwitz: die Linke und die Aufarbeitung des NS-Völkermords, ISP, 2000. Moderne und Gewalt: eine europäische Genealogie des Nazi-Terrors, ISP, 2003. Geschichte als Schlachtfeld: zur Interpretation der Gewalt im 20. Jahrhundert,ISP, 2014. Die neuen Gesichter des Faschismus: Postfaschismus, Identitätspolitik, Antisemitismus und Islamophobie, ISP, 2019.
Ilja Budraitskis ist ein politischer und sozialer Theoretiker, der zuvor in Moskau lebte. Vor kurzem kam er als Gastwissenschaftler an die UC Berkeley. Derzeit ist er Mitglied des Redaktionsausschusses des Moscow Art Magazine und von LeftEast. Sein Buch Dissidents among Dissidents wurde mit dem Andrey Belyi-Preis (2017) ausgezeichnet.