„Solange Putin an der Macht ist, wird der Krieg weitergehen“

Der Moskauer Soziologe Greg Yudin über die Sinnlosigkeit von Verhandlungen mit dem Kreml und Fehler in der deutschen Russlandpolitik.

Die Fragen stellte Julika Luisa Enbergs.

Der Krieg in der Ukraine dauert nun schon 17 Monate. Von außen lässt sich schwer beurteilen, was die russische Bevölkerung von der Invasion hält. Wie einig ist sich die Gesellschaft bei diesem Thema?

Die Gesellschaft ist tief gespalten. Wir sprechen von einem Land, in dem die Menschen wenig gegenseitiges Vertrauen und kaum Interesse an Politik haben, sich eher nicht politisch engagieren und auch nicht glauben, die Politik beeinflussen zu können. Der Krieg wird meist als etwas wahrgenommen, das von außen kommt, gegen das man nichts unternehmen kann. So kann keine wirkliche Einigkeit entstehen. Es produziert Angst, Unsicherheit und Verzweiflung.

Die russische Gesellschaft lässt sich grundsätzlich drei Kategorien zuordnen. Die erste Gruppe unterstützt den Krieg. Das sind Menschen, die emotional involviert sind, zum Teil auch dem Militär nahestehen. Sie unterstützen die Armee materiell. Viele von ihnen fordern ein brutaleres, aggressiveres Vorgehen. Das ist eine Minderheit, ich würde sagen, 15 bis 20 Prozent. Doch sie ist sehr laut, weil ihre Stimme in der verzerrten öffentlichen Sphäre massiv verstärkt wird. Im Grunde ist das die einzige Stimme, die man überhaupt zu hören bekommt. Eine zweite Minderheit empfindet den Krieg als nicht gerechtfertigt, ist empört darüber, betrachtet ihn als einen fatalen Fehler, der noch viel Leid über Russland bringen wird. Diese Minderheit könnte etwas größer sein als die Erste, aber das ist nur eine Schätzung. Die dritte Gruppe befindet sich in der Mitte. Diese Menschen halten sich nicht auf dem Laufenden und versuchen, das Geschehen zu verdrängen. Diese letzte Kategorie stellt die überwältigende Mehrheit. Und im Grunde zieht diese Mitte bereitwillig mit allem mit. Das ist die vorherrschende Haltung, weil die Chance, die Lage zu beeinflussen, gegen Null geht.

Gibt es nennenswerte Unterschiede zwischen den Altersgruppen oder geografischen Regionen?

Wenn man genauer hinschaut, erkennt man die Spaltungen in der russischen Gesellschaft. Die wohl markanteste ist die zwischen den Generationen. Der Krieg wird von den Älteren unterstützt; sie fühlen sich derselben Welt zugehörig, in der auch die herrschende russische Elite lebt. Die Generationen nehmen den Krieg und die aktuelle Lage sehr unterschiedlich wahr. Die zweite Spaltung ist die nach Einkommen. Es ist nicht nur der Krieg der Älteren, sondern auch der Krieg der Reichen. Im Grunde ist es der Krieg derer, die nicht darin sterben können. Die Älteren sind für die totale Mobilmachung, aber nicht sie werden in den Krieg ziehen, sondern ihre Kinder. Dasselbe betrifft das Einkommen. Die Reichen sterben nicht, sie schicken einfach die Armen. Aus diesen Spaltungen erwachsen große Spannungen. Im Moment werden diese Spannungen durch den Krieg unterdrückt, aber sie sind definitiv da. Deshalb ist die Vorstellung eines einigen Russlands von der Realität sehr weit entfernt.

Das Regime, das dieses System errichtet hat, zerstört jegliche Art von Solidarität.

Wie fragil ist Putins Reich angesichts dieser Spaltungen?

Es ist sicherlich ein sterbendes Reich. Man erkennt das daran, dass es den Regionen, die es kontrollieren will, nichts zu bieten hat. Ihnen wird allein die Idee in Aussicht gestellt, die Sowjetunion wieder erstehen zu lassen, und das ist im Grunde ein Hirngespinst. Zivilisatorische Projekte sind Fehlanzeige. Deshalb ist das Modell für die Ukraine und andere Länder völlig uninteressant. Und deshalb setzt Russland auch ausschließlich auf Gewalt: Wenn die nicht zu uns gehören wollen, zwingen wir sie einfach, statt ihnen etwas anzubieten. Insofern ist dieses Reich sehr zerbrechlich. Es ist mehr oder weniger klar, dass es nicht unbedingt mit der Auflösung endet, sondern mit dem Untergang der imperialen Idee. Das Reich wird damit zu Ende gehen, dass es in eine Republik umgewandelt wird. Das ist in Deutschland so passiert und auch in Frankreich. Es ist üblich, dass die imperiale Idee auf diese Weise überwunden wird.

Sie sagen, die Gesellschaft sei überwiegend unpolitisch. Warum sind die meisten Menschen in Russland so gleichgültig gegenüber der Politik?

Menschen werden politisiert, wenn sie die Möglichkeit zu politischem Handeln haben, und die gibt es in Russland nicht. Niemand glaubt, die Ereignisse beeinflussen zu können. Politisierung bedeutet kollektives Handeln, denn in der Politik geht es um Gemeinschaftlichkeit, um Solidarität. Dafür fehlt jede Gelegenheit. Das Regime, das dieses System errichtet hat, zerstört jegliche Art von Solidarität. Jede Form kollektiven Handelns wird unterdrückt und diskreditiert. Das führt dazu, dass man sich nur um sich selbst oder vielleicht noch um die eigene Familie kümmert.

Was macht die militärische Mobilmachung mit dem Zusammenhalt von Staat und Gesellschaft?

Die Mobilmachung spiegelt diese Ungleichheiten und verstärkt sie noch. Sie ist selektiv und zielgerichtet. Sie erfasst die Menschen, die das geringste Kapital haben, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial. Um zu fliehen oder sich zu verstecken, braucht man Unterstützung im sozialen Umfeld. Außerhalb Russlands wissen die wenigsten, dass die überwiegende Mehrheit der Russen nie im Ausland war. Siebzig Prozent haben noch nie einen Reisepass besessen. Wo soll man sich also verstecken? Das ist kaum zu schaffen. Es gibt aber auch einen finanziellen Anreiz, zum Militär zu gehen. Die meisten Rekruten haben nie so viel Geld verdient wie in der Armee. Viele sind sich bewusst, dass sie wahrscheinlich sterben werden. Aber ist ihr Leben überhaupt lebenswert? Viele würden das mit nein beantworten. Die Ortschaften, in denen sie rekrutiert werden, sind oft extrem trostlos. Diesen Menschen kommt es vor, als lebten sie schon ewig im Krieg. Angst, Orientierungslosigkeit und die Aufstiegschancen im Militär treiben die Menschen in die Armee – natürlich ist das nicht grenzenlos, aber es funktioniert. Dieser Mechanismus wiederum verstärkt vorhandene Privilegien, weil auch er auf die weniger Wohlhabenden, weniger Privilegierten abzielt.

Putin hat sich hinter der Behauptung verschanzt, dass die Ukraine gar nicht existiert.

Oft hört man, der Krieg könne nur mit einem Friedensvertrag beendet werden. Sie sagen, der Westen solle nicht mit Putin verhandeln. Warum?

In dem Krieg geht es ja um die Frage, ob die Ukraine ein souveräner Staat ist. Man würde sie jedoch bevormunden, wenn man sie an den Verhandlungstisch zwänge. Damit würde man implizit Putins Behauptung akzeptieren, dass die Ukraine kein souveräner Staat ist und dass andere die Bedingungen diktieren können. Putin hat sich hinter der Behauptung verschanzt, dass die Ukraine gar nicht existiert. Das begreifen viele nicht. Verhandlungen und eine Wiederherstellung der Beziehungen zwischen den beiden Ländern sind notwendig und im Grunde unumgänglich. Aber dafür müssen zunächst Hindernisse aus dem Weg geschafft werden, nämlich die Leute im Kreml, die derzeit die Kommunikation zwischen den Menschen behindern und die Beziehungen zwischen Gruppen, die sich kulturell eigentlich nahestehen, zerstören. Danach muss definitiv verhandelt werden. Ich finde, Wolodymyr Selensky formuliert das sehr klar: Mit dieser Führung wird es keine Verhandlungen geben, aber mit der nächsten russischen Regierung schon. Die Beziehungen müssen wiederhergestellt werden. Und natürlich werden von unserer Seite große Anstrengungen nötig sein.

Ist ein Ende des Krieges also nur in Sicht, wenn es keinen Putin und keinen „Kreml“ mehr gibt?

Solange Putin an der Macht ist, wird der Krieg weitergehen und eskalieren. Für Putin geht es in diesem Krieg gar nicht um die Ukraine. Er will das Reich wiederherstellen. Und dieses Reich umfasst alle Länder des Warschauer Pakts. Da Putin von Neutralität nichts hält, ist das Ziel natürlich nicht, dass diese Länder neutral werden, sondern dass sie in die russische Einflusssphäre zurückkehren. Das gilt auch für Ostdeutschland. Wenn Putin in der Ukraine Erfolg hat, wird er es nicht dabei belassen. Die Republik Moldau ist bereits ein fester Bestandteil der militärischen Planung. Allerdings scheitert die Operation derzeit kläglich. Hätte das russische Militär Odessa eingenommen, so wäre es auch in der Moldau einmarschiert. Wir erleben die Anfangsphase eines gigantischen Krieges. Putins Vision ist der unvermeidliche Krieg gegen den Westen, die NATO. In den Augen der Russen war der Krieg unumgänglich, was natürlich nicht stimmt. Wenn sie in der Ukraine Erfolg haben, werden sie auf jeden Fall weiter in den Westen vordringen. Das Kalkül ist ganz klar: Niemand wird wegen Polen, Litauen oder Estland einen Atomkrieg riskieren. Ich behaupte nicht, dass dieser Plan aufgeht. Aber es gibt ihn, das muss man im Hinterkopf behalten.

Sie haben kritisiert, dass die Bundesregierung in der Zusammenarbeit mit Russland einen großen Fehler begangen hat, als sie sich auf Putin und die herrschende Elite konzentriert hat. Wie könnte eine künftige Zusammenarbeit mit Russland aussehen?

Es gibt viel Kritik an der deutschen Russlandpolitik, und ich finde nicht alle Punkte fair, denn es ist ja völlig natürlich, dass man die Zusammenarbeit mit einem großen Land anstrebt, mit dem man eine lange gemeinsame Geschichte hat. In meinen Augen war das kein Fehler. Der Fehler lag meiner Ansicht nach vielmehr darin, dass man nicht mit der Gesellschaft, sondern mit den herrschenden Eliten zusammengearbeitet hat. Spätestens seit dem brutal niedergeschlagenen Aufstand in Russland 2011 und 2012 war völlig klar, dass die deutsche Wirtschaft und Politik es mit Leuten zu tun hat, die bereit sind, die russische Demokratie zu zerstören. Das haben wir den Deutschen jahrelang klarzumachen versucht. Kanzlerin Merkels Politik war absolut unvernünftig. Das war, als gebe man die Sicherheit ganz Europas für einen schrecklichen Deal über wichtige Energieressourcen her.

Die deutsche Regierung hätte sich nicht an die sehr kleine Elite halten dürfen, die völlig unverblümt die russische Gesellschaft unterdrückt hat. So etwas sollte sich nicht wiederholen. Es braucht die Kommunikation von Mensch zu Mensch. Es braucht mehr Interaktion, mehr Engagement, mehr Beteiligung. Die jetzige Bundesregierung hatte die geniale Idee, die Visumspflicht für junge Russinnen und Russen aufzuheben. Aber das geschah im Dezember 2021, als für mich bereits klar war, dass der Krieg kommen würde. Das war zu spät. Man hätte das mindestens zwanzig Jahre früher machen sollen. Das sind verpasste Chancen, und daraus müssen wir lernen.

Liegt es auch an diesem Mangel an Interaktion, dass die russische Staatspropaganda so gut wirkt?

Für das Funktionieren der Staatspropaganda gibt es mehrere Gründe. Die Strategie ist, die Menschen zu demobilisieren. Die Staatspropaganda vermittelt ihnen, dass alles unter Kontrolle ist und sie auf der richtigen Seite stehen. Um die Wahrnehmung zu erzeugen, dass man von Feinden umgeben ist, erzählt der Staat allerlei Märchen über das, was in Deutschland vor sich geht, und verbreitet eine stark vereinfachte Weltsicht. Beobachtungen aus nächster Nähe können das ändern. Wenn Menschen die Möglichkeit haben, ins Ausland zu reisen, merken sie plötzlich, dass es dort doch ganz anders aussieht. Das beflügelt die Fantasie. Leider glauben die meisten Menschen in Russland in einer alternativlosen Welt zu leben.

Aus dem Englischen von Anne Emmert