Dieser Brief wurde von der Redaktion der ukrainischen Zeitschrift Commons journal of social criticisms verfasst und am 2. November 2023 veröffentlicht. Bis zum 4. November haben ihn 221 Personen aus der Ukraine unterzeichnet. Er spricht sich für „Solidarität mit allen, die unterdrückt werden und für Freiheit kämpfen“ aus. Ukrainer:innen können den Brief hier unterzeichnen. Unterdessen haben mehrere Zeitschriften den Brief in andere Sprachen übersetzt und ebenfalls publiziert. Zu nennen sind unter anderen Mediapart in Frankreich, SinPermiso in Spanien und Links International Journal of Socialist Renewal in Australien. Wir von emanzipation schließen uns dieser bemerkenswerten Initiative aus der Ukraine gerne an und dokumentieren den Solidaritätsbrief in deutscher Sprache.
Wir, ukrainische Wissenschaftler:innen, Künstler:innen, politische und gewerkschaftliche Aktivist:innen, Mitglieder der Zivilgesellschaft, sind solidarisch mit dem palästinensischen Volk, das seit 75 Jahren der israelischen militärischen Besatzung, der Separation, der kolonialen Siedlergewalt, der ethnischen Säuberung, der Landenteignung und der Apartheid ausgesetzt ist und Widerstand leistet. Wir schreiben diesen Brief als Menschen für Menschen. Der vorherrschende Diskurs auf Regierungsebene und sogar unter Solidaritätsgruppen, die die Kämpfe von Ukrainer:innen und Palästinenser:innen unterstützen, führt oft zu einer Trennung. Mit diesem Brief lehnen wir diese Spaltungen ab und bekräftigen unsere Solidarität mit allen, die unterdrückt werden und für Freiheit kämpfen.
Als Aktivist:innen, die sich der Freiheit, den Menschenrechten, der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit verschrieben haben, verurteilen wir entschieden, unter voller Anerkennung des Machtgefälles, Angriffe auf die Zivilbevölkerung – seien es Israelis, die von der Hamas angegriffen werden, oder Palästinenser:innen, die von den israelischen Besatzungstruppen und bewaffneten Siedlerbanden angegriffen werden. Absichtlich Zivilpersonen anzugreifen, ist ein Kriegsverbrechen. Dies ist allerdings keine Rechtfertigung für die kollektive Bestrafung der palästinensischen Bevölkerung, die Gleichsetzung aller Bewohner:innen des Gazastreifens mit der Hamas und die wahllose Verwendung des Begriffs „Terrorismus“ für den gesamten palästinensischen Widerstand. Dies ist auch keine Rechtfertigung für die Fortsetzung der anhaltenden Besatzung. Bezugnehmend auf mehrere UN-Resolutionen wissen wir, dass es keinen dauerhaften Frieden ohne Gerechtigkeit für das palästinensische Volk geben wird.
Am 7. Oktober wurden wir Zeugen der Gewalt der Hamas gegen die Zivilbevölkerung in Israel, ein Ereignis, das nun von vielen herausgegriffen wird, um den palästinensischen Widerstand insgesamt zu dämonisieren und zu entmenschlichen. Die Hamas, eine reaktionäre islamistische Organisation, muss in einem größeren historischen Kontext gesehen werden. Israel dringt seit Jahrzehnten in palästinensisches Land ein, lange bevor diese Organisation in den späten 1980er Jahren gegründet wurde. Während der Nakba („Katastrophe“) von 1948 wurden mehr als 700.000 Palästinenser:innen brutal aus ihren Häusern vertrieben, ganze Dörfer wurden massakriert und zerstört. Israel hat seit der Gründung nie aufgehört, seine koloniale Expansion voranzutreiben. Die Palästinenser:innen wurden ins Exil gezwungen, zersplittert und unter verschiedenen Regimen verwaltet. Einige von ihnen sind israelische Staatsbürger, die von struktureller Diskriminierung und Rassismus betroffen sind. Diejenigen, die im besetzten Westjordanland leben, sind unter der jahrzehntelangen militärischen Kontrolle Israels der Apartheid unterworfen. Die Bevölkerung des Gazastreifens leidet unter der von Israel seit 2006 verhängten Blockade, die den Personen- und Warenverkehr einschränkt und zu wachsender Armut und Entbehrungen führt.
Seit dem 7. Oktober und zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Berichts kamen im Gazastreifen mehr als 8.500 Menschen ums Leben. Mehr als 62 Prozent der Todesopfer sind Frauen und Kinder. Mehr als 21.048 Menschen wurden verletzt. In den letzten Tagen hat Israel Schulen, Wohngebiete, die griechisch-orthodoxe Kirche und mehrere Krankenhäuser bombardiert. Außerdem hat Israel die gesamte Wasser-, Strom- und Treibstoffversorgung im Gazastreifen unterbrochen. Es herrscht ein gravierender Mangel an Lebensmitteln und Medikamenten, was zu einem völligen Zusammenbruch des Gesundheitssystems geführt hat.
Die meisten westlichen und israelischen Medien rechtfertigen diese Todesfälle als reine Kollateralschäden im Kampf gegen die Hamas, schweigen aber, wenn es um palästinensische Zivilist:innen geht, die im besetzten Westjordanland angegriffen und getötet werden. Allein seit Anfang 2023 und vor dem 7. Oktober hat die Zahl der Toten auf palästinensischer Seite bereits 227 erreicht. Seit dem 7. Oktober wurden 121 palästinensische Zivilist:innen im besetzten Westjordanland getötet. Mehr als 10.000 palästinensische politische Gefangene sind derzeit in israelischen Gefängnissen inhaftiert. Ein dauerhafter Frieden und Gerechtigkeit sind nur möglich, wenn die andauernde Besatzung beendet wird. Die Palästinenser:innen haben das Recht auf Selbstbestimmung und Widerstand gegen die israelische Besatzung, so wie die Ukrainer:innen das Recht haben, sich der russischen Invasion zu widersetzen.
Unsere Solidarität entspringt der Wut über die Ungerechtigkeit und dem tiefen Schmerz über die verheerenden Auswirkungen der Besatzung, des Beschusses der zivilen Infrastruktur und der humanitären Blockade, die wir in unserem Heimatland erlebt haben. Teile der Ukraine sind seit 2014 besetzt, und die internationale Gemeinschaft hat es damals versäumt, die russische Aggression zu stoppen, sie hat auch den imperialen und kolonialen Charakter der bewaffneten Gewalt ignoriert, die daraufhin am 24. Februar 2022 eskalierte. Zivilist:innen in der Ukraine werden täglich beschossen, in ihren Häusern, in Krankenhäusern, an Bushaltestellen, in Warteschlangen für Brot. Als Folge der russischen Besatzung leben Tausende von Menschen in der Ukraine ohne Zugang zu Wasser, Strom oder Heizung. Es sind die schwächsten Gruppen, die am meisten von der Zerstörung kritischer Infrastruktur betroffen sind. In den Monaten der Belagerung und des schweren Bombardements von Mariupol gab es keinen humanitären Korridor. Die israelischen Angriffe auf die zivile Infrastruktur im Gazastreifen, die israelische humanitäre Blockade und die Besetzung von Land mitanzusehen, ist für uns besonders schmerzhaft. Von diesem Ort des Schmerzes, der Erfahrung und der Solidarität aus rufen wir unsere ukrainischen Mitbürger:innen weltweit und alle Menschen dazu auf, ihre Stimme zur Unterstützung des palästinensischen Volkes zu erheben und die anhaltende israelische ethnische Säuberung zu verurteilen.
Wir lehnen die Erklärungen der ukrainischen Regierung ab, die Israels Kriegshandlungen bedingungslos unterstützen, und halten die Aufrufe des ukrainischen Außenministeriums zur Vermeidung von Opfern unter der Zivilbevölkerung für verspätet und unzureichend. Diese Position bedeutet eine Zurücknahme der Unterstützung der Rechte der Palästinenser:innen und der Verurteilung der israelischen Besatzung, die die Ukraine seit Jahrzehnten verfolgt hat, einschließlich der Stimmabgabe in der UNO. Wir sind uns der pragmatischen geopolitischen Überlegungen bewusst, die hinter der Entscheidung der Ukraine stehen, sich den westlichen Verbündeten anzuschließen, von denen unser Überleben abhängt. Doch wir sehen die derzeitige Unterstützung Israels und die Ablehnung des palästinensischen Rechts auf Selbstbestimmung als Widerspruch zum eigenen Eintreten der Ukraine für die Menschenrechte und den Kampf für unser Land und unsere Freiheit. Wir als Ukrainer:innen sollten nicht mit den Unterdrücker:innen solidarisch sein, sondern mit denjenigen, die diese Unterdrückung erleben und ihr widerstehen.
Wir wenden uns entschieden gegen die Gleichsetzung westlicher Militärhilfe für die Ukraine und Israel durch einige Politiker:innen. Die Ukraine besetzt nicht die Gebiete anderer Völker, sondern kämpft gegen die russische Besatzung, und daher dient die internationale Hilfe einer gerechten Sache und dem Schutz des Völkerrechts. Israel hat palästinensische und syrische Gebiete besetzt und annektiert, und die westliche Hilfe für dieses Land bestätigt eine ungerechte Ordnung und zeigt, dass mit zweierlei Maß gemessen wird, was das Völkerrecht betrifft.
Wir stellen uns gegen die neue Welle der Islamophobie, wie die brutale Ermordung eines 6-jährigen palästinensischen Amerikaners und den Angriff auf seine Familie in Illinois, USA, und die Gleichsetzung jeglicher Kritik an Israel mit Antisemitismus. Gleichzeitig lehnen wir es ab, alle jüdischen Menschen auf der ganzen Welt für die Politik des Staates Israel verantwortlich zu machen, und wir verurteilen antisemitische Gewalttaten wie den Mobangriff auf das Flugzeug in Daghestan, Russland. Wir lehnen auch die Wiederbelebung der „Krieg-gegen-Terror“-Rhetorik ab, die von den USA und der EU benutzt wird, um Kriegsverbrechen und Verletzungen des Völkerrechts zu rechtfertigen, die das internationale Sicherheitssystem untergraben und zahllose Todesopfer gefordert haben. Diese „Krieg-gegen-Terror“-Rhetorik wurde von anderen Staaten übernommen, darunter Russland für den Krieg in Tschetschenien und China für den Völkermord an den Uiguren. Jetzt setzt Israel sie ein, um ethnische Säuberungen durchzuführen.
Aufruf zum Handeln
Wir drängen auf die Umsetzung des Aufrufs zur Waffenruhe, den die Resolution der UN-Generalversammlung enthält.
Wir fordern die israelische Regierung auf, die Angriffe auf die Zivilbevölkerung unverzüglich einzustellen und humanitäre Hilfe zu leisten; wir bestehen auf einer sofortigen und unbefristeten Aufhebung der Belagerung des Gazastreifens und einer dringenden Hilfsaktion zur Wiederherstellung der zivilen Infrastruktur. Wir fordern die israelische Regierung außerdem auf, die Besatzung zu beenden und das Recht der palästinensischen Vertriebenen auf Rückkehr in ihr Land anzuerkennen.
Wir fordern die ukrainische Regierung auf, den staatlich sanktionierten Terror und die humanitäre Blockade gegen die Zivilbevölkerung im Gazastreifen zu verurteilen und das Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung zu bekräftigen. Wir fordern die ukrainische Regierung außerdem auf, die vorsätzlichen Angriffe auf Palästinenser:innen im besetzten Westjordanland zu verurteilen.
Wir fordern die internationalen Medien auf, Palästinenser:innen und Ukrainer:innen nicht länger gegeneinander auszuspielen, wobei Hierarchien des Leidens rassistische Rhetorik verstetigen und die Angegriffenen entmenschlichen.
Wir haben erlebt, wie sich die Welt in Solidarität mit dem ukrainischen Volk vereint hat, und wir rufen alle auf, dasselbe für das palästinensische Volk zu tun.
Referenzen:
Übersetzung aus dem Englischen von Christian Zeller.