Applaus für Putin, Sowjetnostalgie und leise Kritik
Am 21. Februar, drei Tage vor dem Überfall auf die Ukraine, legte Präsident Wladimir Putin in einer langen Rede die ideologischen Motive dar, die die russische Invasion rechtfertigen sollten: „Die heutige Ukraine wurde voll und ganz und ohne jede Einschränkung von Russland geschaffen, genauer: vom bolschewistischen, kommunistischen Russland. Man kann sie heute mit Fug und Recht als Wladimir-Lenin-Ukraine bezeichnen.“[1]
2005 hatte Putin noch den Zerfall der UdSSR als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet. Heute sieht er die eigentliche Tragödie in deren Gründung. „Zum Zerfall unseres geeinten Landes führten historische strategische Fehler der Führung der KPdSU“, sagte er nun und warf Lenin vor, in der sowjetischen Verfassung das Recht jeder Republik festgeschrieben zu haben, die Union zu verlassen.
Putin will mit „der echten Überwindung des Kommunismus“ in der Ukraine endlich das Kapitel der sowjetischen Geschichte abschließen, um zu den Prinzipien des vorrevolutionären Russischen Reichs zurückzukehren. Der unverhohlene Antikommunismus hindert die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF), die zweitstärkste Partei in der Duma – oder genauer gesagt ihre Führung –, aber nicht daran, die „Spezialoperation“ in der Ukraine bedingungslos zu unterstützen.
Obwohl sich die KPRF in der Präambel ihres Parteiprogramms als direkte Nachfolgerin der bolschewistischen Partei bezeichnet, begann ihre Geschichte eigentlich erst 1993. Zwei Jahre zuvor hatte Präsident Boris Jelzin nach dem Ende der UdSSR die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) aufgelöst, was zur Gründung diverser linker Gruppierungen führte. Sie protestierten erbittert gegen die „Schocktherapie“, die der russischen Wirtschaft verordnet wurde.
Um die linken Kritiker mundtot zu machen, beschloss die Regierung, die Gründung einer gemäßigten Oppositionskraft zu fördern, die bereit sein sollte, sich den neuen Regeln zu unterwerfen. Jelzin, der zuerst daran gedacht hatte, nach dem Vorbild mehrerer osteuropäischer Staaten die „kriminelle kommunistische Ideologie“ zu verbieten, genehmigte die Neugründung einer kommunistischen Partei.
Im Februar 1993 wählte der Gründungsparteitag der KPRF Gennadi Sjuganow zum Vorsitzenden, und das ist er bis heute. Im Oktober 1993 wurde das russische Parlament gewaltsam aufgelöst. Nach diesem Vorspiel zur Errichtung eines autoritären Präsidialregimes erlangte die KPRF ein Quasimonopol auf der linken Seite des neuen Parteiensystems. Im Gegenzug unterwarf sie sich einer unausgesprochenen Regel: Egal wie viele Stimmen sie bekämen, niemals würden die Kommunisten die strategische Ausrichtung des Landes bedrohen. Vor allem verzichteten sie darauf, sich der weiteren Privatisierung und dem Ausbau der Marktwirtschaft zu widersetzen. Sie kanalisierten die Unzufriedenheit und wurden für lange Zeit zu einem Faktor der Stabilität.
In den 1990er und 2000er Jahren blieb die KPRF die mitgliederstärkste Partei (bis zu 500 000) und die einzige, die imstande war, zehntausende Demonstrierende auf die Straße zu bringen. Trotz begrenzter finanzieller Mittel und fehlender TV-Präsenz konnte sie dank ihrer engagierten Anhänger:innen erfolgreich Wahlkampf machen. 1995 wurde die KPRF bei den Duma-Wahlen stärkste Partei, 1996 verlor Sjuganow in der Stichwahl um die Präsidentschaft nur knapp gegen Jelzin. Trotz zahlreicher Manipulationen erkannten die Kommunisten das Wahlergebnis an.
Nach Putins Machtantritt im Jahr 2000 verhärtete sich das politische Regime. Der Erfolg und die relative Unabhängigkeit der KPRF wurden vom Kreml immer weniger toleriert. Die Regierung zwang die Kommunisten, „radikale Elemente“ auszuschließen, und verstärkte ihren finanziellen Einfluss auf die Partei. Während Anfang der 2000er Jahre die Mitgliedsbeiträge mehr als die Hälfte der Einnahmen ausgemacht hatten, waren es 2005 nur noch 6 Prozent. Dafür stieg der Anteil der staatlichen Finanzierung auf 89 Prozent.[2]
Wegen des Gehorsams, mit dem die KPRF ihre Rolle als „konstruktive“ Opposition ausfüllte, verlor sie viele ihrer Mitglieder (2016 waren es nur noch 160 000) und die Unterstützung der Wählerschaft. Bis heute steckt sie in der Zwickmühle zwischen der Notwendigkeit, loyal gegenüber dem Kreml zu bleiben, und dem Wunsch, neue Anhänger:innen zu gewinnen.
Obwohl die Partei 2011 das Hauptopfer der Wahlfälschung war, beteiligte sie sich nicht an den Demonstrationen, sondern überließ es der liberalen Opposition, das Banner der demokratischen Freiheiten hochzuhalten. Bei den Präsidentschaftswahlen im März 2018 machte die KPRF jedoch einen ersten Schritt auf die Protestwähler zu. Sie nominierte den weitgehend unbekannten parteilosen Kandidaten Pawel Grudinin, einen Unternehmer an der Spitze eines privatisierten ehemaligen Sowchos, dessen Rhetorik sich von den üblichen kommunistischen Reden unterschied. Er stellte die aktuellen sozialen Probleme in den Vordergrund, nicht die Erfolge und Großtaten der Sowjetunion.
Trotz des Aufrufs von Alexei Nawalny, die Wahl, für die er selbst nicht kandidieren durfte, zu boykottieren, gelangte Grudinin im ersten Wahlgang mit 11,7 Prozent (8,6 Millionen Stimmen) auf den zweiten Platz: eine beachtliche Leistung angesichts der Dominanz Putins. Sein Ergebnis inspirierte Nawalny im Herbst 2018 zu der neuen Strategie der „intelligenten Stimmabgabe“. Er forderte dazu auf, für die Kandidat:innen zu stimmen, die die größten Chancen hatten, die Putinpartei Einiges Russland zu schlagen. Die kamen meist aus der KPRF.
Die Richtungsänderung folgte unmittelbar auf die Proteste gegen den Regierungsbeschluss, das Renteneintrittsalter zu erhöhen.[3] Diese sehr unpopuläre Entscheidung stärkte die Opposition, vor allem die kommunistische. Im September 2018 siegte die KPRF bei den Teilwahlen in den Regionen Irkutsk und Chakassien und einigen Städten der Regionen Uljanowsk und Samara. Diese Dynamik bestätigte sich im Herbst 2019, als die Kommunisten fast ein Drittel der Sitze (13 von 45) im Moskauer Stadtparlament gewannen.
Das war eine paradoxe Situation: Ein Teil der städtischen Mittelschicht mit liberalen Überzeugungen stimmte gegen ihre Prinzipien. Die Wahlgeografie der KPRF veränderte sich. Während sie in den 1990er und 2000er Jahren vor allem in den ländlichen Regionen im Süden Russlands stark war, ist sie es heute in den industriellen Zentren und Großstädten.
Bei den letzten Parlamentswahlen im September 2021 erhielt die KPRF viele Stimmen in Jekaterinburg, Irkutsk, Chaborowsk und Tscheljabinsk. In Moskau und Sankt Petersburg, wo die liberalen Kräfte traditionell immer stärker waren als im Rest des Landes, gewann die KPRF 22 beziehungsweise 17,9 Prozent der Stimmen, während die liberale Oppositionspartei Jabloko eine schwere Niederlage erlitt.
Widerspruch vom Abgeordneten aus Buratien
Auch im Gesamtergebnis war die KPRF dem Rest der Opposition weit voraus: Mit 18,9 Prozent lag sie mehr als 10 Prozentpunkte vor Wladimir Schirinowskis drittplatzierter rechtsextremer Liberal-Demokratischer Partei Russlands, mit der sie bei der Parlamentswahl 2016 mit rund 13 Prozent noch gleichauf gelegen hatte.
Trotz dieser neuen Wählerschaft hat sich die Partei weder ideologisch noch in der internen Struktur weiterentwickelt. Ihr Parteiprogramm ist bis heute von Stalinismus, Nationalismus und der Verteidigung eines paternalistischen Wohlfahrtsstaats geprägt. Hochgehalten wird die Treue zur „dynamischen marxistisch-leninistischen Doktrin“, beklagt wird der „Genozid an einer großen Nation“, und angemahnt wird die Notwendigkeit, die russische Zivilisation vor den Angriffen eines materialistischen und seelenlosen Westens zu schützen.
Dieser Linie entsprechend hat die kommunistische Fraktion im Vorfeld des Überfalls auf die Ukraine eine aktive Rolle gespielt. Am 19. Januar, während russische Truppen an der Grenze aufmarschierten und die westlichen Staatschefs den Dialog mit Putin fortsetzten, reichten elf kommunistische Abgeordnete in der Duma eine Resolution ein, in der sie den russischen Präsidenten dazu aufforderten, die Unabhängigkeit der „Volksrepubliken“ in der Ostukraine anzuerkennen und dem „Genozid“ der dortigen Bevölkerung ein Ende zu setzen.
Es war eine Absage an das Minsker Abkommen, das Donezk und Luhansk als Teil der Ukraine anerkannt hat, und kam einer direkten Kriegserklärung gleich. Anfänglich war diese Initiative der Parlamentsmehrheit von Einiges Russland zu radikal. Aber einen Monat später wurde das Papier mit absoluter Mehrheit von der Duma verabschiedet und bildete die Grundlage für den Überfall.
Am ersten Kriegstag erklärte die KPRF offiziell, Putins Ukrainepolitik voll zu unterstützen, wobei sie Wörter wie „Krieg“ oder „Militäroperation“ sorgsam vermied. Wie von der offiziellen Rhetorik vorgegeben forderte die Partei, dass das Nachbarland „entmilitarisiert und entnazifiziert“ werden muss und die Pläne „der USA und ihrer Nato-Satelliten zur Unterwerfung der Ukraine“ durchkreuzt werden müssen. In einer weiteren Erklärung vom 12. April beschrieb die KPRF die Ukraine als „Weltzentrum des Neonazismus“ und forderte, „alle geistigen und ökonomischen Ressourcen Russlands zu mobilisieren, um den Liberal-Faschismus zu besiegen“.
Allerdings gehören auch die drei einzigen russischen Abgeordneten, die den Mut hatten, öffentlich gegen die Invasion in der Ukraine zu protestieren, der kommunistischen Fraktion an. Einer von ihnen, Oleg Smolin, der für seinen ausdauernden Kampf gegen die Privatisierung der Bildung anerkannt ist, erklärte schon in den ersten Kriegstagen: „Alle Militärexperten bestätigen uns, dass eine großangelegte Operation in der Ukraine keineswegs ein Spaziergang wird. Mich schmerzen die vielen Menschenleben, unsere und die der anderen.“ Wjatscheslaw Markajew, Vertreter der autonomen Republik Buratien, sprach sich ebenfalls entschieden gegen den Krieg aus und bedauerte, dass die Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk als „Vorwand“ genutzt worden sei. Aus seinem Wahlkreis in Sibirien kommt der größte Anteil der seit Beginn des Krieges getöteten Soldaten.
Mehrere KPRF-Abgeordnete aus der Region Primorje, der Oblast Woronesch, der Republik Komi und der Republik Jakutien haben sich gegen den Krieg ausgesprochen. Einer der brillantesten Vertreter der jungen Generation der Partei, der Moskauer Abgeordnete Jewgeni Stupin, hat mit anderen eine linke Antikriegskoalition gegründet. Sie vereint mehrere politische Gruppierungen, die nicht in der Duma vertreten sind. Die Abgeordneten geraten mit ihrer öffentlichen Stellungnahme gegen den Krieg in einen Konflikt mit der offiziellen Parteilinie. Mehrere wurden ausgeschlossen, bevor sie ihren Parteiausweis zurückgeben konnten.
Links von der KPRF haben andere Organisationen aktiv an den Friedensdemonstrationen teilgenommen. Die Sozialistische Bewegung Russlands hat gemeinsam mit der ukrainischen Linken von Sozialnyi Ruch (Soziale Bewegung) eine Erklärung veröffentlicht. Diese bildet eine von ganz wenigen russisch-ukrainischen Initiativen. Der Text verurteilt Russlands „kriminellen und imperialistischen“ Krieg und unterstützt alle Maßnahmen zu seiner Beendigung, auch die Sanktionen und die Lieferung von Defensivwaffen an die Ukraine.
Die Erklärung ist umso bedeutungsvoller, als die ukrainischen Sicherheitskräfte der Linken im eigenen Land Antipatriotismus unterstellen. Die russischen Anarchisten von Awtonomnoje Deistwije (Autonome Aktion) riefen „die russischen Soldaten auf zu desertieren, sich den kriminellen Befehlen zu verweigern und die Ukraine unverzüglich zu verlassen“.
Der Krieg gegen die Ukraine vollendet die Spaltung zwischen den Sowjetnostalgikern und linken Gruppen, die sich für eine demokratische, antiautoritäre russische Gesellschaft engagieren. Heute wirkt das linke Antikriegslager isoliert. Jeder Aufruf zum Widerstand gegen die imperialistische Aggression wird sofort massiv unterdrückt und von der Mehrheit der Gesellschaft abgelehnt. Doch kamen nicht 1917, mitten im Ersten Weltkrieg, diejenigen, die die russischen Soldaten zur Befehlsverweigerung aufriefen, gegen jede Erwartung an die Macht? Sie waren es auch, die schließlich die Ukraine in ihren heute anerkannten Grenzen schufen: noch ein Grund für Putin, Lenin zu hassen.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Ilya Budraitskis ist Historiker und lehrt an der School of Social and Economic Sciences und am Institute of Temporary Art in Moskau. Zuletzt erschien von ihm „Dissidents among Dissidents: Ideology, Politics and the Left in Post-Soviet Russia“, London/New York (Verso) 2022.
Notes
[1] Die Rede auf Deutsch unter: www.zeitschrift-osteuropa.de/blog/putin-rede-21.2.2022.
[2] „Finanzaktivitäten der Parteien am Vorabend der Duma-Wahlen“ (auf Russisch), Golos, 4. August 2016.
[3] Siehe Karine Clément, „Auf Kosten der Alten“, LMd, November 2018.